Die Herrin des Waldes

Ein gellender Schrei hallte durch das Haus, als der Wolf sich auf das kleine Mädchen stürzte. Sie strauchelte zu Boden, ihre Augen weit aufgerissen, während das Monster sich langsam vor ihr aufbaute. Im matten Kerzenlicht warf seine Gestalt einen langen, verzerrten Schatten an die Wand; Klauen und Krallen bereit, sich in den Körper des Mädchens zu schlagen.

„Und dann“, ertönte die Stimme aus dem Halbdunkeln, „verschlang der Wolf Rotkäppchen mit Haut und Haaren.“

Ein neuer Schrei. Der Wolf drückte das Mädchen zu Boden und sie schlug unter seinem Gewicht um sich.

„Hör auf!“, rief sie, während ein Kichern ihrer Kehle entglitt. „Du erdrückst mich noch!“

Auf Yashas Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Sie ließ den Stoff-Wolf langsam höher wandern, während sich Ida unter ihr lachend krümmte. „Würde der große böse Wolf einfach aufhören, wenn man ihn nett darum bittet? Außerdem hat er dich schon längst verschlungen.“

Ida begann zu glucksen. „Nein, hat er nicht.“

„Still jetzt. Verschlungene Mädchen reden nicht“, mahnte Yasha mit tiefer Stimme.

„Ich bin nicht verschlungen“, beharrte Ida und kicherte erneut. „Und überhaupt, der Jäger wird mich sowieso retten kommen.“

„Bist du dir da sicher?“

„Klar. Er wird dem Wolf den Bauch aufschlitzen und ihn mit Steinen füllen, bevor er ihn in den Brunnen schubst“, erklärte Ida. Für eine Fünfjährige war die Überzeugung in ihrem Tonfall erstaunlich deutlich. „Er ist immerhin der Held! Und du“, sie drückte Yasha den Stoff-Wolf entgegen, „bist nur ein hässliches altes Monster.“

„Ach ja?“ Das Grinsen auf Yashas Lippen vertiefte sich. „Würde ein Monster auch das tun?“ Sie stürzte sich auf Ida und begann sie zu kitzeln. Ihre Halbschwester schrie erneut und strampelte um sich, während ihr das Lachen Tränen in die Augen trieb. Die beiden wälzten sich auf dem Teppichboden des Zimmers, völlig versunken in ihr Spiel, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde.

„Was zur Hölle macht ihr da?“

Yasha hielt abrupt in ihrer Bewegung inne und setzte sich auf. Durch einen Vorhang aus schwarzen Haaren und pinken Spitzen erkannte sie eine schlanke Gestalt im Türrahmen. Daphne. Wie jedes Mal, wenn sie ihrer Stiefschwester gegenüberstand, fühlte Yasha ein dumpfes Ziehen in ihrem Brustkorb. Ein Stich der Eifersucht, den sie auch nach all den Jahren, die sie sich schon kannten, nie ganz vertreiben konnte. Daphnes Haut war porzellanweiß, die Augen blau wie Gletschereis. Natürlich unterstrichen die kurzen, blonden Haare ihre Züge perfekt – denn es gab nichts, was an Daphne Ehrhardt nicht perfekt war.

Daphnes Blick blieb kurz auf Yasha hängen, dann wandte sie sich an Ida, die immer noch glucksend in einer Ecke des Raumes saß. Erst jetzt schien sie die Kerzen zu bemerken, die das Bücherregal und das kleine Nachttischlein zierten. Ihre Augen verengten sich.

„Bitte sag mir, dass du nicht ernsthaft Kerzen im Zimmer einer Fünfjährigen angezündet hast.“

„Es war nur, um für ein wenig Stimmung zu sorgen. Ich hatte ja nicht vor, sie die ganze Nacht brennen zu lassen.“

„Ich kann dir sagen, welche Stimmung geherrscht hätte, wenn du das ganze Haus abgefackelt hättest“, erwiderte Daphne. „Und sie würde dir mit Garantie nicht gefallen.“

„Ich habe alles unter Kontrolle.“

Anstelle einer Antwort schnaubte Daphne bloß.  Sie schaltete die Deckenlampe ein und machte sich daran, die Kerzen so schnell wie möglich auszupusten. „Ich fass es einfach nicht“, murmelte sie. „Was habt ihr überhaupt hier drin gemacht?“

„Yasha hat mir eine Geschichte vorgelesen“, antwortete Ida.

Daphne erstarrte. Sie drehte sich zu Yasha um. „Was?“

„Dina hat mich gebeten, Ida ins Bett zu bringen“, erklärte Yasha und kam auf die Beine. „Sie meinte, dass du ihr jeden Abend vor dem Einschlafen was vorlesen würdest, also – “

„Wieso habt ihr mich nicht gerufen?“

„Du warst noch mit Lernen beschäftigt, also dachte ich, ich stör dich lieber nicht.“

Daphne seufzte, dann hob sie Ida vom Boden hoch und setzte die Kleine ins Bett. Sorgfältig zog sie die Decke hoch. „Wir gehen jetzt schlafen, okay? Ich werde dir morgen wieder vorlesen.“

Ida verzog das Gesicht. „Aber ich will Yasha. Sie soll weitermachen!“

Obwohl Daphne sich nicht umdrehte, konnte Yasha auch so die eiskalte Welle des Hasses fühlen, die in diesem Moment von ihr ausging. Das war das einzige Gefühl, das Daphne sie seit ihrer Rückkehr hatte spüren lassen. Eine Woche lebte Yasha nun schon in diesem Haus – und mit jedem verstreichenden Tag schien die Stimmung schlechter zu werden.

Nicht, dass Yasha es Daphne hätte verübeln können. Es konnte nicht einfach sein, plötzlich eine neue Mitbewohnerin zu haben. Noch schwerer wurde es, wenn jene Mitbewohnerin die verhasste Stiefschwester aus Berlin war und man plötzlich gezwungen war, Tag und Nacht Zeit miteinander zu verbringen. Seit ihre Eltern geheiratet hatten, hatten Yasha und Daphne stets eine unausgesprochene Vereinbarung gehabt: Sie tolerierten sich stumm und gingen sich gegenseitig aus dem Weg. So war es immer gewesen und keine von ihnen hatte geplant, je etwas daran zu ändern.

Aber jetzt war ihre Mutter tot und Yasha war aus dem kalten Berlin zurück nach Hause gereist – zurück zu ihrem Vater und seiner neuen Frau, zurück in die Heimat, die sie vor so vielen Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter verlassen hatte. Jetzt konnten sie sich nicht mehr länger aus dem Weg gehen. Ganz egal, wie wenig sie sich ausstehen konnten.

Daphne drückte Ida einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn, bevor sie sich von ihr verabschiedete und das Zimmer verließ. Yasha zog für einen kurzen Moment in Erwägung, dasselbe zu tun, entschied sich aber dagegen. Auch nach fünf Jahren, in denen sie Zeit gehabt hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, eine große Schwester zu sein, fühlte es sich immer noch falsch an. Wie ein Titel, den sie zwar trug, aber nicht verdient hatte.

„Schlaf schön, Süße“, flüsterte Yasha Ida zu, bevor sie die Tür hinter sich zuzog und sich leise seufzend gegen die Wand im Gang lehnte. Daphne war schon längst in ihrem Zimmer verschwunden.

Das Lachen von Ida, der kurze Moment der Unbeschwertheit, den sie zusammen genossen hatten, verpuffte augenblicklich in der Stille, die sich im Haus ausgebreitet hatte. Für ein paar Sekunden hatte Yasha die Realität fast vergessen. Nun schlug sie ihre eiskalten Krallen wieder tief in ihr Inneres.

Ist das nun mein Leben?

Es fühlte sich nach wie vor unwirklich an. Surreal. Ob sich all das hier – Ida, Daphne, das Haus – jemals wie Zuhause anfühlen würde? Yasha bezweifelte es.

In der Finsternis hinter ihren Lidern tauchten verschwommene Bilder auf – Erinnerungsfetzen, die sie jedes Mal verfolgten, wenn sie die Lider schloss. Das Licht von piependen Maschinen. Endlose Gänge und viel zu weiße Räume. Und über allem der Gestank von Desinfektionsmittel, der immer noch in ihrer Nase brannte. Er schien sich an ihr festgeklammert zu haben, auch wenn es über eine Woche her war, seit sie sich im Krankenhaus verabschiedet hatte.

Eine WocheSieben Tage.

Es fühlte sich wie ein einziger an. Ein ewig langer Tag, der sich zog und zog und zog, wie ein nie endender Kaugummi. Vermutlich würde er tatsächlich nie enden, wurde sich Yasha in diesem Moment bewusst. Ein Teil von ihr glaubte immer noch, dass all das vorbeigehen würde, wenn der Tag zu Ende war. Doch der rationale Teil ihres Gehirns wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Der Tag würde nicht enden. Er würde zu Wochen und dann zu Monaten und schließlich zu Jahren werden, bis Yasha irgendwann mehr Tage ihres Lebens ohne Mutter verbracht hatte als mit.

Ihre Augen begannen zu brennen, als die Realität sie mit der Wucht einer Faust ins Gesicht traf. Doch die Tränen kamen nicht. Sie hatte noch kein einziges Mal geweint, seit es passiert war. Ihre Haut pochte an der Stelle, wo sich die Finger ihrer Mutter ein letztes Mal zwischen die Lücken ihre eigenen geschoben hatten – wie ein zweiter Herzschlag neben dem Rattern in ihrer Brust.

Der Rhythmus eines Herzens, das nie wieder schlagen würde.

Yasha öffnete schnell die Augen und rieb ihre Hand energisch an ihrer Jeans, als könne sie das Pochen und was es zu bedeuten hatte, so vertreiben. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht über ihre Mutter, nicht über Krankenhäuser, und schon gar nicht über die Zukunft.

Das hier war die Gegenwart und sie würde nach vorne sehen.

Sie musste einfach.

 

* * *

 

Ihr Vater saß am Esstisch, als Yasha wenig später die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg. Es fühlte sich nach wie vor seltsam an, ihn jeden Tag zu sehen. Er gehörte hierher – zu diesem Haus, zu dieser Familie –, während Yasha sich nach wie vor wie ein Fremdteil fühlte. Vor langer Zeit hatten sie einmal gemeinsam hier gelebt, sie und ihre Eltern. Das war noch vor der Scheidung gewesen, noch bevor ihr Vater Dina kennengelernt und mit ihr eine neue Familie gegründet hatte. Jetzt lebten sie in diesem Haus, das einst Yashas Zuhause gewesen war. Es war ihr fremd geworden in den letzten Jahren. Die Räume hatten längst alles ihrer einstigen Vertrautheit verloren. Es roch sogar falsch hier. Nicht mehr so wie in ihrer Erinnerung.

Ihr Vater sah von seinem Tablet auf, als er Yasha näher kommen hörte. Manchmal fühlte es sich an, als würde sie in einen Spiegel schauen, wenn sie in sein Gesicht blickte. Sie teilten sich beide die tiefbraune Haut, dieselben schwarzen Augen, dieselbe sportliche Statur. Nur die Nase mit dem winzigen Höcker drauf – die hatte sie von ihrer Mutter.

„Alles klar bei dir?“, fragte er. Wie jedes Mal lächelte er dabei die Schatten unter seinen Augen weg, und wie jedes Mal gab Yasha ihm eine Lüge als Antwort.

„Alles bestens.“ Sie zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. „Ich hab Ida ins Bett gebracht.“

„Das war nicht zu überhören.“ Das Lächeln ihres Vaters vertiefte sich. „Ich will ehrlich zu dir sein: Dina und ich haben uns im Vornherein ein wenig Sorgen gemacht, wie sie auf deine Anwesenheit reagieren würde. Sie ist eher zurückhaltend, was Fremde angeht.“ Er hielt inne, als hätte er sich dabei ertappt, etwas Falsches gesagt zu haben. „Na ja, nicht Fremde, aber du weißt, was ich meine.“

„Schon gut.“ Yasha winkte ab. „Wir haben uns kaum gesehen in den letzten Jahren. Da bin ich wohl tatsächlich so was wie eine Fremde für sie.“

„Nun, es ist jedenfalls schön zu sehen, dass ihr so gut miteinander klar kommt.“

Yasha verzog das Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob Daphne da derselben Meinung ist.“

„Habt ihr euch wieder gestritten?“

„Nicht direkt.“ Yasha seufzte. „Sie hat mir nur ziemlich deutlich gemacht, dass ich nicht in ihrem Leben erwünscht bin.“

Ihr Vater nahm Yashas Hand und drückte sie aufmunternd. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Als ich Dina kennengelernt habe, hat Daphne mir auch lange die kalte Schulter gezeigt. Erst nach der Hochzeit schien sie mich allmählich zu akzeptieren. Und jetzt verstehen wir uns bestens. Ich bin mir sicher, dir wird es ähnlich ergehen.“

„Nach der Hochzeit?“ Yasha stieß ein trockenes Lachen aus. „Also muss ich mich einfach ein paar Jahre gedulden, bis ihr Hass auf mich verfliegt? Gut zu wissen.“

„Sie hasst dich nicht, Yasha“, stellte ihr Vater klar. „Die ganze Situation ist nur … nicht ganz einfach für sie.“

Yasha schwieg. Vermutlich hatte er recht. Daphne hatte sich genauso wenig ausgesucht, eine neue Schwester zu bekommen wie Yasha.

Kurz legte sich Stille über die Küche. Ihr Vater zog seine Hand zurück und setzte sein Lächeln wieder auf, auch wenn es nach wie vor nicht ganz seine dunklen Augen erreichte. „Bist du fertig geworden mit auspacken?“

„Ich arbeite daran“, gab Yasha wahrheitsgetreu zur Antwort. Dass ihre Koffer seit ihrer Ankunft vor einer Woche immer noch ungeöffnet in einer Ecke des Zimmers lagen, verschwieg sie.

„Ich habe mit Dina gesprochen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass du in deinem Zimmer machen darfst, was du willst. Wände streichen, Poster aufhängen, Jungs einladen“, er zwinkerte ihr zu, „ist alles erlaubt. Es gehört ab jetzt dir.“

Es war seltsam, ihren Vater über irrelevante Dinge wie Jungs reden zu hören, nachdem Yasha ihn vor wenigen Tagen noch in jenem weißen Krankenhauszimmer hatte zusammenbrechen sehen. Seine Schluchzer schienen immer noch in ihr widerzuhallen. Dina hatte ihn in ihren Armen gehalten, ihr Make-up verschmiert, ihre Haare von der langen Autofahrt zerzaust. Sie hatte einiges zu Yasha gesagt, doch sie konnte sich an nichts davon erinnern.

„Wir wollen, dass du dich bei uns voll und ganz wohlfühlst, okay?“ Ihr Vater legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mir ist bewusst, dass es nicht dasselbe ist wie damals, aber … Wir wollen, dass es wieder dein Zuhause sein kann.“

„Zuhause, was?“, murmelte Yasha. Plötzlich fühlte sie sich furchtbar müde. Sie dachte an das halbleere Zimmer im Obergeschoss, das nun ihr gehörte. Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank. Unpersönlich. Farblos. Nichts da drin fühlte sich nach ihr selbst an. Nach der Yasha, die sie kannte.

„Ich weiß, dass die Dinge zwischen uns nicht immer einfach waren in den letzten Jahren“, fuhr ihr Vater fort. „Aber wenn du je reden oder schreien oder weinen willst – dann bin ich da und höre dir zu. Wir stehen das gemeinsam durch. Was immer du brauchst. Was immer passiert. Okay?“

„Okay“, flüsterte Yasha.

„Deine Mutter hat dich sehr geliebt. Und ich auch.“

Sie schluckte. „Ich weiß.“

„Ich behaupte nicht, dass es einfach sein wird, neu anzufangen. Aber Dina und Daphne und Ida und ich – wir werden alles daran setzen, dass du dich hier aufgehoben fühlst. Wir sind jetzt immerhin eine Familie.“

Eine Familie. Das Wort klang falsch in Yashas Ohren. Wie eine Lüge, die man sich ständig vorsagte, bis man sie irgendwann selbst glaubte.

Yasha erhob sich vom Stuhl, der dabei mit einem leisen Quietschen über den Boden schlitterte. „Ich muss kurz raus. Etwas frische Luft schnappen, bevor ich ins Bett gehe.“

Ihr Vater nickte. Er schien noch mehr sagen zu wollen, aber bevor er die Möglichkeit dazu hatte, drängte sich auf einmal eine Frau in die Küche. Sie war Mitte vierzig mit weißer Haut und fast genauso hellen Haaren, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte.

„Oh, Yasha.“ Dina lächelte. „Bist du auf dem Weg nach draußen?“ Es war offensichtlich, woher Daphne ihre Perfektion geerbt hatte. Dina war so unnatürlich schön wie eine Porzellanpuppe, ohne jegliche Makel. Manchmal fragte sich Yasha, wie um alles in der Welt ihr Vater es geschafft hatte, eine Frau wie sie zu heiraten. „Könntest du vielleicht noch den Müll mit rausnehmen?“

„Klar, kein Problem.“

Dina schlang ihre langen Arme um Yasha und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. „Danke dir. Du bist ein Schatz!“ Mit diesen Worten verließ sie die Küche.

Seufzend erhob sich nun auch Yashas Vater vom Esstisch, um es seiner Frau gleichzutun. „Gute Nacht“, verabschiedete er sich, legte ihr beim Vorbeigehen kurz eine Hand auf die Schulter und folgte Dina schließlich nach oben.

Yasha sah den beiden hinterher, verdrängte den seltsamen Stich in ihrer Brust und schnappte sich schließlich den Müllsack, bevor sie sich auf den Weg nach draußen machte.

 

* * *

 

Der Geruch von Kuhmist und Silage schlug ihr entgegen und machte ihr einmal mehr klar, wo sie sich befand. Das Grau von Berlin war gegen das satte Grün von sanften Hügeln eingetauscht worden, auch wenn davon in der Dunkelheit nun nichts sichtbar war. Die Luft hier war klar und egal, wie sehr Yasha den Kopf reckte, sie konnte keine funkelnden Lichter in der Ferne, keine Menschenmassen, keine Autos entdecken. Sie war von nichts als Natur umgeben.

Und sie hasste jede einzelne Sekunde davon.

Alles im Dorf erinnerte sie an bessere Zeiten. Als ihre Eltern noch zusammen gewesen waren. Als sie noch gemeinsam lange Spaziergänge durch schattige Wälder unternommen hatten, statt sich jeden Abend anzuschreien. Alles, was Yasha im Schatten der Dunkelheit erkennen konnte – die Umrisse der umliegenden Häuser, die flackenden Straßenlaternen, die Schemen der Berge in der Ferne – schienen sie zu verhöhnen, schienen zu sagen: Schau hin, wie dein Leben hätte aussehen können, wenn nicht alles schiefgelaufen wäre!

Wenn ihre Eltern sich nie getrennt hätten.

Wenn ihre Mutter nie krank geworden wäre.

Wenn, wenn, wenn.

Es gab kein Wort, das Yasha mehr verachtete. Wenn sang von Möglichkeiten, die nie ergriffen worden waren. Von Leben, die nie gelebt worden waren. Von Träumen, die nie verwirklicht worden waren. Kein Wunder, dass es das Lieblingswort der Erwachsenen war.

Ein dumpfes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Müllsack in ihren Händen fallen gelassen hatte. Fluchend hob sie ihn wieder auf, zog die Schlaufe enger und machte sich anschließend auf den Weg zum Container am Ende der Auffahrt. Auch wenn der August gerade erst angebrochen war, erschauderte Yasha in ihren dünnen Leggins und dem viel zu weiten, schwarzen Hoodie. Ein kühler Wind strich durch ihre Haare und ein schmerzhaftes Prickeln breitete sich in ihrem Nacken aus.

Sie öffnete den Deckel des Containers und schwang den Müllsack darüber, um ihn im Inneren zu versenken. Als sie sich wieder in Bewegung setzen wollte, überkam sie ein eiskalter Schauder. Es glich jenem unbehaglichen Gefühl, wenn man nachts allein im Bett lag und sich der Klamottenstapel auf dem Stuhl in einen stummen Besucher verwandelte.

Yasha fuhr herum, aber da war niemand. Natürlich nicht. Sie atmete aus. Rasch versteckte sie ihre Hände in den Taschen ihres Hoodies und setzte ihren Weg fort, nur um wenige Sekunden später erneut innezuhalten. Dieses Mal war sie sich sicher, dass sie Schritte gehört hatte. Leise, tapsende Schritte irgendwo in der Finsternis hinter ihr.

Sie folgten ihr seit ihrer Ankunft hier. Immer, wenn Yasha in der Stille der Nacht versank, hörte sie ihr Tapsen. Das kaum wahrnehmbare Geräusch von sanften Pfoten auf dem Asphalt. Und jedes Mal, wenn sie über ihre Schulter sah, war da nichts. Nur jenes schmerzhafte, eisige Prickeln in ihrem Nacken, und die Hitze, die sich langsam von ihren Fingerspitzen bis in ihren Brustkorb ausbreitete.

Sie hatte niemandem davon erzählt. Warum auch? Vermutlich war es nur ein Konstrukt ihrer eigenen Fantasie. Ein Überbleibsel des Schocks, die eigene Mutter verloren zu haben. Es würde vorbeigehen. Wie all das hier, irgendwann.

Mit zügigen Schritten ging Yasha wieder auf das Haus zu. Die Lust auf einen Spaziergang war ihr vergangen; außerdem war ihr kalt. Alles, was sie im Moment noch wollte, war, sich unter ihrer Decke einzukuscheln, die Kopfhörer aufzusetzen und die Musik so laut aufzudrehen, bis sie die Welt um sich herum vergaß.

Über ihre Schultern sah sie noch einmal zurück zum Container. Die Kälte in ihrem Nacken verstärkte sich. Sie hätte schwören können, dass sie zwei helle Augen zwischen den dichten Sträuchern anstarrten.

Doch als sie das nächste Mal blinzelte, waren sie verschwunden.