Leseprobe zu Ein Meer aus Feuer

Kailin, Tag 360

 

Kailin O’Read hatte in ihrem Leben eine Menge fragwürdiger Entscheidung getroffen, aber hierherzukommen stellte sich gerade als eine der schlechtesten heraus.

Während sie im kniehohen Wasser der Höhle stand und versuchte, den Gestank von Seegras und toten Fischen in ihrer Nase zu ignorieren, hinterfragte sie jede einzelne Entscheidung, die sie hierhergeführt hatte. Sie hätte es von Anfang an besser wissen sollen, als einem Hinweis vom Langen Nils zu vertrauen. Morgan hatte sie eindringlich davor gewarnt, dem Raritätenhändler auch nur ein einziges Wort zu glauben. Aber natürlich hatte sich Kailin eingebildet, es besser zu wissen. Immerhin kannte sie Typen wie den Langen Nils nur zu gut. Man traf sie an jeder größeren Hafenstadt in den Hundert Inseln: Schleimige, zwielichtige Männer mit fragwürdigen moralischen Vorstellungen und noch fragwürdigerer Zahnhygiene, die logen, als wäre es ihre zweite Muttersprache. Das einzige Fünkchen Ehrlichkeit an ihnen war ihre Gier – nur selten machten sie sich die Mühe, diese zu verbergen. Für die richtige Anzahl Goldstücke waren sie bereit, jedes noch so behütete Geheimnis preiszugeben.

Oder zumindest war Kailin bis vor ein paar Stunden von dieser Tatsache überzeugt gewesen.

Nun verfluchte sie sich innerlich für die achtzig Goldstücke, die sie dem Langen Nils für den Hinweis zum legendären Schatz der Seehexe über die Theke geschoben hatte. Wie hatte sie so leichtsinnig sein können? Jetzt stand sie irgendwo in einer Höhle unter den Klippen, während die Flut mit jeder Minute unnachgiebig höher stieg und das kalte Wasser des Meeres sich an ihren Klamotten festsaugte.

Sie wusste, dass sie umdrehen musste. Die letzten Sonnenstrahlen beim Höhleneingang waren schon fast von der einbrechenden Nacht verschluckt worden und die Finsternis sickerte immer weiter in die Spalten und Ritzen des Felsen um sie herum. In der Ferne konnte sie das rhythmische Rauschen der Wellen hören, die gegen die Klippen schlugen.

Kailin fluchte leise, zog ihr Feuerzeug aus der Tasche und beleuchtete damit das Stück Pergament in ihrer Hand. Den Aufzeichnungen nach war sie am richtigen Ort. Doch der Weg vor ihr führte lediglich in eine Sackgasse. Der Pfad ging ein paar Fuß weiter, bevor er ruckartig in die Tiefe sackte, die nun allmählich mit dem einlaufenden Flutwasser gefüllt wurde. Dahinter verschloss ein dunkler Felsen jegliches Weiterkommen.

Ihr lief die Zeit davon. In wenigen Minuten würde das Wasser alles geflutet haben und dann würde sie ihr Vorhaben wohl oder übel abbrechen müssen, wenn sie nicht ertrinken wollte. Beim Gedanken daran erschauderte sie. Die Mannschaft wusste nicht einmal, wo sie war. Würde sie hier sterben, würde ihr Körper vom Fels der Klippen verschluckt werden, nur um dann Monate später an einem Strand ausgespuckt und von den Seevögeln blankgepickt zu werden. Ein bedeutungsloses Ende für ein bedeutungsloses Leben.

Warum hatte sie auch unbedingt allein losziehen müssen?

Wenn sie wenigstens Calico oder Grace mitgenommen hätte. Sie waren alle bessere Schwimmer, als sie es jemals sein würde. Aber sie hatte keinen von ihnen in Gefahr bringen wollen. Nicht, nachdem der letzte Überfall ihnen fast den Kopf gekostet hätte.

Nein, Kailin hatte beschlossen, ihrer Mannschaft eine wohlverdiente Auszeit zu gönnen. Sie hätte es nicht ertragen, sie noch einmal in Gefahr zu bringen. Also war sie allein losgezogen, fest davon überzeugt, dass sich die Sache innerhalb weniger Stunden erledigen lassen würde. Rein, den Schatz finden, wieder raus.

In diesem Seegras versifften, stinkenden Loch jämmerlich zu ertrinken, war definitiv nicht Teil des Plans gewesen.

Mit einem ernüchternden Schnauben gab sie sich geschlagen. Als sie sich umdrehen und den Weg zurück zum Höhleneingang einschlagen wollte, stieß sie auf Widerstand. Der Absatz ihres Stiefels hatte sich irgendwo unter Wasser in einem Stein verkeilt und hinderte sie am Weiterkommen. Kailin verzog das Gesicht und kauerte sich hinab, um mit den Händen im kalten Nass nach dem Absatz zu suchen und ihn zu befreien. Die Strömung der hereindringenden Flut riss gewaltsam an ihren Klamotten.

Da entdeckte sie das Licht. Es musste schon die ganze Zeit über da gewesen sein, aber es war nur aus gebückter Position sichtbar. Bläulich schimmerte es unter der Oberfläche des Wasserbeckens, das sich inzwischen am Ende des Tunnels gebildet hatte.

Kailin hielt inne. Eine neue, gewagte Idee braute sich in ihrem Kopf zusammen. Das Licht bedeutete, dass es da vorne – irgendwo unter Wasser – weiterging. Es musste dort unten einen Tunneleingang geben, den sie vorhin in der Finsternis unmöglich hatte ausmachen können. Von dort musste das Licht stammen.

Rasch warf Kailin einen Blick über ihre Schulter zurück. Das Wasser war inzwischen schon fast bis zu ihren Hüften gestiegen. Ihr blieben vermutlich nur noch Minuten, um den Höhleneingang rechtzeitig zu erreichen. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Erneut wandte sie ihren Blick dem Licht zu, das unter der Wasseroberfläche vor ihr schimmerte. Wie weit es da wohl runter ging? Dreißig Fuß? Vielleicht mehr? Sie erschauderte.

Jetzt oder nie.

Sie presste die Kieferknochen aufeinander. Sie war Kailin O’Read, die einarmige Klaue der See und die berüchtigste Piraten-Kapitänin der Westküste der Hundert Inseln. Sie hatte sich diesen Titel nicht mit Schweiß und Blut verdient, um im entscheidenden Moment einen Rückzieher zu machen.

Das Wasser rauschte weiter in die Höhle und umspülte Kailins Ellbogen und ihren Bauchnabel unter dem weißen Hemd, das ihre Brust bedeckte. Sie nahm einen tiefen Atemzug und tauchte dann hinab in die Tiefe vor ihr.

Kein Weg zurück.

Das Rauschen der Flut wurde augenblicklich von einem dumpfen Dröhnen in Kailins Ohren abgelöst und eine unerwartete Stille nahm sie ein. Das Abstoßen vom Felsen hatte sie ein paar Fuß hinab gezogen, aber nun schlug Kailin unbeholfen mit den Armen um sich, um weiter in die Tiefe zu gelangen. Augenblicklich wünschte sie sich, sie hätte Grace‘ Angebot angenommen, richtig Schwimmen zu lernen. Damals hatte ihr Stolz gesiegt. Jetzt hätte sie sich für diese Entscheidung am liebsten selbst geohrfeigt.

Vorsichtig öffnete Kailin die Augen. Verschwommene Bilder zogen vor ihr vorbei, hunderte von verschiedenen Schichten aus Schwärze und Finsternis. Und da, irgendwo unter ihr in der Tiefe, jenes bläuliche Leuchten, das die Dunkelheit wie ein Leuchtturm durchbrach.

Mit ungeschickten Bewegungen sank Kailin tiefer. Nur weil sie nicht schwimmen konnte, bedeutete das nicht, dass sie nicht tauchen konnte. Hinabsinken war kein Problem. Es war vielmehr das Wiederauftauchen, das ihr Sorgen bereitete. Aber damit würde sie sich befassen, wenn es so weit war.

Das Licht kam nicht so schnell nahe, wie sie erhofft hatte. Ihr Brustkorb, der sich beim Eintauchen in das kalte Wasser automatisch zusammengezogen hatte, begann allmählich zu brennen. Ihr Bauch drückte sich zusammen und es kostete sie alle Kraft, nicht dem Verlangen nachzugeben, nach Luft zu schnappen.

Kailin erreichte den Boden. Erleichterung durchflutete sie, als sie realisierte, dass sie recht gehabt hatte: Der schwarze Felsen öffnete sich hier tatsächlich zu einem kleinen Tunnel, aus dem das blaue Licht drang. Er war gerade groß genug, dass Kailin sich hindurchquetschen konnte. Ihre Schultern schabten am Gestein vorbei, während sie sich mit den Fingern am Geröll vorwärts zog. Das Brennen in ihrem Hals wurde stärker. Panik klumpte sich in ihr zusammen. Ihr Brustkorb zog sich weiter zusammen, doch Kailin zwang sich, ihren Mund verschlossen zu halten, dem Drang nach Atmen nicht nachzugeben.

Wie weit ist dieser verfluchte Tunnel denn noch?

Da! Endlich ein Ausgang. Der Tunnel wurde breiter und endete in einer kleinen Kammer, die von Wasser ausgespült war. Kailin drückte sich mit den Schuhen am Boden ab, dann durchbrach sie keuchend die Oberfläche.

Wenig später zerrte sie die Umarmung des Meeres wieder nach unten. Kailin strampelte, bis ihre Füße schließlich auf festem Grund landeten. Mühevoll zog sie sich aus dem Wasser an ein sandiges Ufer, wo sie nach Luft japsend zusammenbrach. Ein paar Wimpernschläge lang blieb sie auf dem Rücken dort liegen, die Augen geschlossen, das Brennen hinter ihren Rippen langsam abebbend. Das war knapp gewesen.

Viel zu knapp.

Kailin genehmigte sich einige Minuten der Ruhe, bevor sie schließlich die Lider öffnete. Obwohl sie ihn gerade erst wiedererlangt hatte, stockte ihr kurz der Atem. Sie war in einer kleinen Kammer im Felsen gelandet, die sich wohl irgendwo im Inneren der Klippen befinden musste. Seidene, klebrige Fäden aus einem ihr unbekannten Material hingen von der gewölbten Decke über ihr – Hunderte, wenn nicht gar Tausende von ihnen, und sie alle schimmerten im hellen Blau, das sie von der anderen Seite aus gesehen hatte. Es war ein bizarrer und unwirklicher Anblick. Etwas, von dem Kailin erwartete, es in einem ihrer verworrenen Träume zu sehen, aber niemals in der Realität.

Ihr entwich ein selbstgefälliges Lachen. Kidd würde vor Neid platzen, wenn sie ihm hiervon erzählte.

Mit einem Sprung kam sie auf die Beine und versicherte sich, dass ihr Inventar vollständig war. Die Karte, die sie vom Langen Nils erhalten hatte, war wie zu erwarten durchnässt und kaum mehr lesbar, aber Kailin hatte ihr Ziel sowieso längst erreicht. Ansonsten war alles da, was sie brauchte: das kleine Fernglas an ihrem Gürtel, der wasserdichte Beutel mit ein paar Goldstücken und ihr Entermesser, das an der Scheide an ihrer Hüfte steckte.

Das Klicken ihrer Stiefel hallte an den Wänden der Höhle wider. Sie rutschte über den glitschigen Boden und musste sich zwingen, langsame Schritte zu machen. Mit der Hand hielt sie den Griff ihres Entermessers umklammert, jederzeit bereit, in Angriffsstellung überzugehen. Ihr Herz raste.

Der Lange Nils hatte sie vor dem Fluch der Seehexe gewarnt, die in dieser Höhle leben sollte. Natürlich wusste Kailin, dass solche Geschichten nur Ammenmärchen waren, die sich die Piraten gegenseitig erzählten, um einander von ihren Schätzen fernzuhalten. Dennoch war es nie ein schlechter Rat, Vorsicht walten zu lassen und jederzeit für einen Kampf gewappnet zu sein.

Sie erreichte eine kleine Nebenhöhle, deren Decke ebenfalls mit jenen unerklärlichen Lichtfäden durchzogen war. Das blaue Licht von oben warf lange Schatten in die Kammer und es dauerte einen Moment, bis sich Kailins Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Erst dann entdeckte sie die kleine Truhe, die in der Mitte des Raumes ruhte.

Ihr Herz machte einen Sprung. Das musste er sein. Der sagenumwobene Schatz, zu dem die Karte sie geführt hatte.

Die letzten paar Meter brachte Kailin rasch hinter sich. Sie kniete sich vor der Truhe nieder. Ihr Holz war von der Feuchtigkeit in der Höhle schon ganz morsch geworden, einige Stellen davon mit kleinen Muscheln überwachsen. Kailin fuhr ehrfürchtig mit dem Haken an ihrer rechten Hand über die Oberfläche der Truhe und kratzte etwas Belag ab, bevor sie sie öffnete. Darin befand sich, auf blauem Satin gebettet, ein einzelner, silberner Ring mit einem glitzernden Edelstein. Ein Diamant – und das Schmuckstück, das Kailin und ihre gesamte Mannschaft reich machen würde.

Sie hatte es geschafft.

Zitternd streckte Kailin ihre Hand aus und löste den Ring von seinem Satinpolster. Langsam kam sie hoch, während ein zufriedenes Grinsen sich auf ihren Lippen ausbreitete. Was hatte Morgan noch einmal gesagt? Glaub nie einem Raritätenhändler mit einer Schatzkarte? Sie würde Augen machen, wenn Kailin ihr den Ring unter die Nase rieb.

Mit derselben Hand, mit dem sie ihn aus der Schatztruhe befreit hatte, streifte sie ihn sich über und betrachtete ihn im fahlen blauen Licht. Der Diamant funkelte wie Tausend Sterne an ihrem Finger. Es war eine Schande, dass sie ihn verkaufen würde. Er hätte sich gut zum halben Dutzend Ringe gemacht, die ihre Ohren zierten.

Ein plötzlicher Schmerz jagte durch Kailins Hand. Dort, wo sich der Ring befand, breitete sich Wärme aus, die sich allmählich in unangenehme Hitze verwandelte. Das Silber schien sich in ihre Haut zu fressen wie Feuer und Kailin schrie auf. Sie stolperte zurück, versuchte verzweifelt, sich den Ring abzustreifen, aber er ließ sich nicht bewegen. Mit aufgerissenen Augen musste sie mitansehen, wie er rot aufglühte und sich langsam in ihre Haut fraß.

Eine Stimme donnerte durch die Höhle. Sie schien von überallher zu kommen, brauste wie ein aufkommender Sturm durch die Gänge und ließ die Fäden über Kailins Kopf beben.

Verflucht sollen jene sein, die es wagen, meinen Schatz zu rauben.

Kailin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein erstickter Schrei war alles, was sie hervorbrachte. Kraftlos sank sie auf die Knie. Der Ring an ihrem Finger war verschwunden. Stattdessen zierte nun eine weiße Narbe die dunkle Haut über ihrem Fingergelenk – eine Tätowierung in Form eines winzigen, spitzen Dolchs, der in ihre Richtung zeigte.

Zwölf Monde sollst du leiden, bevor der Dolch meiner Wut dein Herz durchstößt, fuhr die Stimme fort. Nur wenn du im Angesicht des Todes die wahre Liebe erkennst, die du schon längst gefunden hast, sollst du errettet werden. Dies ist mein Fluch und dein Schicksal, Piratentochter.

Das Donnern verebbte und eine geisterhafte Stille legte sich über die Höhle. Der Schmerz in Kailins Hand klang langsam ab, doch die Worte der Stimme hallten immer noch wie ein Echo in ihrem Inneren wider. Sie sank zu Boden, plötzliche Erschöpfung in ihren Verstand dringend. Mit einem letzten Gedanken verfluchte sie sich einmal mehr dafür, nicht auf Morgan gehört zu haben.

Dann wurde alles schwarz.

 

Kailin, Tag 61

 

Die Ader an der Stirn des Mannes pochte so heftig, dass Kailin befürchtete, sie würde jeden Moment aufplatzen. Sein Gesicht hatte in den letzten Minuten jeden einzelnen Farbton durchlaufen, den seine milchig-weiße Haut produzieren konnte. Inzwischen hatte sich sein gesamter Kopf in einem tiefen Rot verfärbt und seine Wangen glühten sichtbar unter der Anstrengung, die er ins Anspannen seiner Muskeln legte. Schweiß glänzte auf seinem kahlen Schädel, der die typischen Tätowierungen der nördlichen Seefahrer trug. Einige Tropfen davon rollten ihm über die Wange, sammelten sich an seinem bartlosen Kinn und landeten geräuschlos im Krug Rum, den er vor sich abgestellt hatte.

Kailin grinste vor sich hin. Sie hätte den Mann schon längst aus seiner Misere befreien können, aber es gefiel ihr, ihm dabei zuzusehen, wie er sich erfolglos gegen ihren Griff sträubte. Ihre Hände waren eng miteinander verknotet, die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, die Oberarme angespannt. Um sie herum hatte sich eine kleine Traube an Seefahrern gebildet, die meisten davon selbst um diese Tageszeit schon so betrunken, dass sie sich aneinander festhalten mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Einige von ihnen grölten laut, andere schwangen ihre Krüge mit Rum im Rhythmus der Musik hin und her, die irgendjemand in einer anderen Ecke der Taverne angestimmt hatte.

»Ich könnte den ganzen Tag so weitermachen«, meinte Kailin und bemühte sich, keinerlei Anstrengung in ihrer Stimme hören zu lassen. »Aber ich fürchte, mein Preisgeld wartet.«

Die Augen ihres Gegners verengten sich. »Glaub ja nicht, dass ich mich von jemandem wie dir fertigmachen lasse, Weib.«

Weib. Autsch. Kreativer wurden die alten Seebärte ja nicht wirklich mit ihren Beleidigungen.

Kailin lockerte ihren Griff etwas und ließ zu, dass der Glatzkopf ihren Unterarm langsam in Richtung des Tisches senkte. Die Menge grölte laut auf. Rum spritzte zwischen den Männern hin und her und landete auf dem Boden der Taverne.

Mit gespielter Überraschung sog Kailin Luft ein. Sie starrte auf ihren Arm, riss die Augen so weit auf, wie sie nur konnte. Der Trick war uralt, aber aus irgendeinem Grund fielen alle Seefahrer darauf herein. Sie waren so sehr von sich selbst überzeugt, dass sie blind wurden. Kailin brauchte nur einen einzigen Moment, in dem ihre Großspurigkeit sie unvorsichtig werden ließ.

Dann schlug sie zu.

Sie wartete ab, bis ihr Arm fast die Tischplatte erreicht hatte – es machte die darauf folgende Niederlage umso süßer – und verlagerte ihr Gewicht nach vorne. Mit einem Ruck riss sie den Arm ihres Gegners hoch und drückte ihn nach unten. Der Glatzkopf war so überrascht von ihrem plötzlichen Angriff, dass er keine Zeit hatte zu reagieren. Sein Unterarm landete auf dem Tisch und die Menge explodierte in Gelächter, Brüllen und Jubelschreien.

Genüsslich lehnte sich Kailin zurück. Der Mann starrte sie fassungslos an, während einige Männer aus seiner Mannschaft ihm verhöhnende Kommentare an den Kopf schmissen und zu lachen begannen. Die Farbe wich schlagartig aus seinem Gesicht.

»Mach dir nichts draus«, sagte Kailin grinsend, erhob sich von ihrem Stuhl und schnappte sich das Säckchen mit Goldmünzen, das er vor ein paar Minuten im Rausch als Einsatz dargeboten hatte. Sie öffnete es und kontrollierte mit einem raschen Blick das Innere. »Wenn du so weitermachst, dann hast du in ein paar Jahren vielleicht eine reale Chance gegen meinen kleinen Bruder.«

Der Kommentar entlockte seiner Mannschaft erneutes Gelächter. Kailin machte eine angedeutete Verneigung, bei der sie die Spitze ihres Huts berührte, und verschwand schließlich in der Menge, ohne dass das Grinsen von ihren Lippen gewichen wäre.

Mit einer geschickten Bewegung ließ sie den Geldbeutel in der Tasche verschwinden, die an ihrem Gürtel befestigt war. Danach zog sie den Lederhandschuh hervor. Kurz blieb ihr Blick an der Narbe hängen, die sich von ihrem Finger über ihre Hand und ihren Arm bis kurz vor der Schulterkugel zog – ein weißer Dolch auf nachtschwarzer Haut, der ihrem Herz mit jedem verstreichenden Mond immer näher kam. Dann streifte sie sich den Handschuh schnell über und zog den Ärmel ihres Oberteils mit dem Haken an ihrem rechten Arm nach vorne. Es änderte nichts, das wusste sie. Aber wenigstens würde sie nicht weiter darüber nachdenken müssen, was es zu bedeuten hatte.

Diesen Gedanken verdrängend, bahnte sie sich ihren Weg durch schwankende Seeleute und schreiende Bardamen hindurch zum Tisch in der Ecke, wo ein großgewachsener, breitschultriger Mann und eine zierliche junge Frau mit kurzen Haaren saßen.

»War es wirklich nötig, ihn so lange zappeln zu lassen?«, fragte Grace, als Kailin sich ihr gegenüber auf die Bank sinken ließ.

»Glaub mir, er hatte es nicht anders verdient.« Kailin zog den Krug mit Rum, den sie vorher auf dem Tisch abgestellt hatte, mit dem Haken zu sich hin. Mit der anderen Hand nahm sie einen großen Schluck. Das bittere Getränk rauschte warm durch sie hindurch.

Grace verdrehte die Augen. Die letzten Monate auf hoher See hatten ihre anfangs blasse Haut einen braunen Goldton annehmen lassen, der im Inneren der Taverne warm schimmerte. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, künftig weniger Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.« In Augenblicken wie diesen konnte man ihren feinen Akzent aus ihrem Kaiserlich heraushören – das einzige Anzeichen dafür, dass ihre Heimat so fern von den Hundert Inseln war, dass selbst die weit gereisten Seeleute in der Taverne sie vermutlich nur aus Erzählungen kannten.

»Es war nur eine harmlose Runde Armdrücken. Außerdem«, Kailin zog das Säckchen mit den Goldmünzen aus ihrer Tasche, »habe ich uns soeben das nächste Abendessen gesichert.«

Calico, der breitschultrige Mann neben Grace, zog beeindruckt die Brauen hoch. Grace hingegen schien seine Begeisterung nicht im Entferntesten zu teilen.

»Wenn du jeden dahergelaufenen Mistkerl blamierst, der uns in irgendeiner Taverne über den Weg läuft, wirst du irgendeinen dieser betrunkenen Salzwassertrinker eines Tages wütend genug machen, um uns dem Kaiserreich auszuliefern. Das ist dir bewusst, oder?«

Kailin winkte ab. »Damit können wir uns befassen, wenn es so weit ist.«

Anstelle einer Antwort verzog Grace bloß das Gesicht und pustete sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Die einst sorgfältig gepflegten, langen Haare hatte sie kurz nach ihrer Ankunft auf der Roten Räuberin in einen wilden Kurzhaarschnitt verwandelt, der von einem Stirnband im Zaum gehalten wurde. Kailin erinnerte sich noch genau an den Tag, als Grace Morgans Rasiermesser gestohlen und sich das Haar in ihrer Kabine raspelkurz geschnitten hatte. Das war der Moment gewesen, als sie den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben hatte, für immer abgelegt hatte und zu Grace geworden war. Es war ihre Vorstellung einer Rebellion gewesen – ohne eine Armee, ohne Widerstand, nur für sie allein. Kailin verstand nach wie vor nicht viel über die Traditionen und Kulturen der fernen Königreiche, aber sie begriff genug, um zu wissen, dass das eigene Kopfhaar dort wie ein wertvolles Schmuckstück behandelt wurde. Allein für das Trimmen der eigenen Haare konnte man zu mehreren Dutzend Peitschenhieben verurteilt werden.

Grace schien zu einem neuen Kommentar anzusetzen, als Calico neben ihr auf der Bank sie plötzlich warnend mit dem Ellbogen anstupste. Der riesenähnliche Hüne mit der mitternachtsschwarzen Haut, dem geflochtenen Bart und dem markanten Kiefer war ein wortkarger Geselle. Kailin war sich sicher, dass sie ihn nicht mehr als ein paar Sätze am Stück reden gehört hatte, seit sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Dennoch war er mit seiner schieren Muskelkraft und seinem Fingerspitzengefühl für kulinarische Meisterwerke ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Roten Räuberin.

Alles andere als wortkarg war hingegen die Gestalt, die sich in diesem Moment aus der Menge löste. Kailin reckte den Kopf und entdeckte Kidd und Will im Gedränge. Die Zwillinge waren groß genug, um auch ohne die für die Inseln ungewohnte pinke Haut, den blonden Haare und den stechend blauen Augen aus der Masse herauszustechen. Sie trugen zwei Krüge Rum in der Hand und steuerten zielstrebig auf den Tisch ihrer Mannschaftskollegen zu. Im Gegensatz zu Kailin brauchten sie sich dabei jedoch nicht mit Ellbogen oder Schultern zu behelfen: Die Menschen um sie herum wichen automatisch zur Seite, als sie näher kamen. Manche von ihnen rissen beim Anblick der Zwillinge verwundert die Augen auf, andere wurden schlagartig blass und manche von ihnen sogen verängstigt Luft ein. Starren taten sie alle.

»Ich habe gehört, unser Boss hat uns gerade ein fettes Schwein zum Abendessen gesichert«, sagte Kidd und stellte den Rumkrug in seiner Hand mit einem hohlen Klacken auf dem Tisch ab. Ein wenig Schaum schwappte dabei über den Rand. »Wusst ich doch, dass auf dich Verlass ist, Käpt’n.«

Grace verdrehte die Augen. »Wie ihr Inselländer es über euch bringt, ein unschuldiges Tier zu verschlingen, werde ich wohl nie verstehen«, murmelte sie.

Calico grummelte zustimmend.

»Warte nur, bis du ihn einmal Hummer essen siehst«, bemerkte Will. »Dann wirst du dich unweigerlich fragen, wer von den beiden das wirkliche Tier ist.«

»Hey!«, protestierte Kidd. »Das ist nicht meine Schuld. Ich habe noch nie einen Menschen in den Hundert Inseln getroffen, der einen Hummer elegant verschlungen hat.«

»Was vielleicht ein Indikator dafür sein sollte, dass Schalentiere nicht zum Verspeisen gedacht sind«, bemerkte Grace so leise, dass es fast in der Musik unterging.

Die Zwillinge ließen sich neben Kailin auf der Bank nieder. Die Tavernenbesucher in ihrer Nähe begannen bei ihrer Anwesenheit zu tuscheln, was die beiden jedoch gekonnt ignorierten. Sie waren die neugierigen Blicke und das nervtötende Geflüster gewohnt. Bis zu den Schultern teilten sie sich einen gemeinsamen Körper, doch darüber hatten beide – wortwörtlich – ihren eigenen Kopf. Sie waren zwei gänzlich verschiedene Persönlichkeiten, und die besten Navigatoren auf den ganzen Hundert Inseln. Auch wenn Kailin das nie vor ihnen zugegeben hätte. Kidds Ego war auch so schon groß genug.

»Ich habe einen neuen Auftrag für uns gefunden.« Kidd zog ein zerknülltes Stück Papier aus der Tasche und strich es auf dem Tisch glatt. Die Tinte war verblichen und die Schrift kaum mehr zu erkennen, als hätte das Blatt schon mehrere Jahre auf dem Buckel. Mit dem Finger wies Kidd auf das Gesicht des Mädchens, das den oberen Teil des Blatts zierte. »Verschollene Prinzessin. 50.000 Gold als Belohnung.«

»50.000 Gold?«, wiederholte Kailin und hätte ihr Getränk beinahe ausgespuckt. Sie zog das Papier zu sich hin und musterte es ausgiebig. Auch wenn Morgan den ganzen letzten Sommer damit verbracht hatte, Kailin das Lesen beizubringen, fiel es ihr nach wie vor schwer, Sinn aus den Buchstaben und Strichen zu machen. Es war, als würde sich ihr Gehirn jedes Mal verknoten, wenn sie zu lange aufs Papier starrte.

Prinzessin Gwennaelle von Auenwies, konnte sie mit Anstrengung entziffern. Unsere geliebte Tochter wurde von einer grausamen Hexe entführt! Wer sie ihrem rechtmäßigen Königreich zurückbringt, soll großzügig mit 50.000 Goldstücken entlohnt werden.

Darunter prangte das Siegel des Königreichs von Auenwies, ein weißer Wisent auf rotem Grund. Es befand sich mehrere Hundert Seemeilen östlich von hier und grenzte an die äußeren Ränder des Kaiserreichs. Weiter waren ein paar Angaben über ihr Aussehen und die Umstände ihres Verschwindens aufgeführt, die Kailin rasch überflog. Sie sah auf. »Und was ist der Haken?«

»Kein Haken«, behauptete Kidd.

»Es gibt immer einen Haken«, erwiderte Will.

Kidd verdrehte die Augen. »Warum musst du stets so negativ sein? Wir finden die Prinzessin, befreien sie aus den Klauen der Hexe und bringen sie nach Hause. Das ist eine Sache von ein paar Wochen. Höchstens.«

Grace zog das Papier zu sich und ließ ihren Blick darüber gleiten. Im Gegensatz zu Kailin dauerte es nur wenige Augenblicke, bis sie den Inhalt entziffert hatte. »Ich weiß nicht. Habt ihr gesehen, wie zerfleddert dieses Papier ist? Wer weiß, wie lange es schon am Anschlagbrett hing. Es haben sich bestimmt unzählige Seefahrer bereits auf die Suche gemacht. Warum hat sich niemand von ihnen die Belohnung geholt?«

Rasch entriss ihr Kidd das Blatt. »Ganz einfach«, erwiderte er und grinste. »Weil keiner von denen die Mannschaft der Roten Räuberin war.«

»Ich hätte eine bessere Erklärung«, entgegnete Will. »Sie sind alle von dieser Hexe pulverisiert worden, bevor sie überhaupt die Chance hatten, die Belohnung einzusacken.«

»Ach, komm schon. Gegen eine alte Hexe kommen wir doch locker an.« Kidds Grinsen vertiefte sich. »Wir haben immerhin selbst eine.«

Kailin reckte den Hals, um ihren Blick über die Taverne schweifen zu lassen. »Wo ist Morgan überhaupt?«

»Draußen«, sagte Calico, ohne eine Miene zu verziehen.

»Sie meinte, sie braucht ein wenig Zeit für sich. Ist wohl schon vorher aufs Schiff zurückgekehrt«, antwortete Grace achselzuckend. Dann seufzte sie. »Wie auch immer. Die Belohnung können wir uns sparen. Ich trau dem Ganzen keinen Meter weit.«

»Ganz meine Worte«, stimmte Will ihr zu.

Kidd stöhnte genervt auf. »Wo ist euer Sinn für Abenteuer, Matrosen? Wollt ihr wirklich 50.000 Goldstücke einfach so ausschlagen? Das könnte unser Leben für immer verändern. Stellt euch nur vor, was wir mit so viel Geld kaufen könnten. Fässer voll Rum! Herrliche Kleider aus Seide! Unsere eigene kleine Insel! Alles, wovon wir nur träumen, könnte Wirklichkeit werden.«

Er hatte durchaus einen Hang zur Dramatik. In Momenten wie diesen war sich Kailin sicher, dass Kidd in einem anderen Leben Schauspieler geworden wäre.

»Ich fürchte, selbst alles Gold der Welt würde nicht reichen, um dir einen richtigen Bart zu beschaffen«, spottete Grace. »Aber man kann ja träumen, was?«

»Hey, beleidige die Stoppeln nicht!«

»Stoppeln nennst du das? Das ist nicht einmal Flaum, mein Lieber.«

Kailin ließ ihre Hand auf die Tischplatte fahren, bevor Kidd die Möglichkeit hatte, zum Gegenschlag auszuholen. »Können wir uns bitte wieder auf das Wesentliche konzentrieren? Wir haben immer noch nicht entschieden, ob wir diesen Auftrag verfolgen sollen.«

»Ich weiß nicht, was es da zu entscheiden gibt«, entgegnete Grace. »Die Sache stinkt gewaltig. Das ist es nicht wert, überhaupt die Segel zu setzen.«

Kailin seufzte. »Trotzdem hat Kidd recht.« Sie konnte nicht glauben, dass sie das gerade wirklich sagte. »Wir könnten das Gold gut gebrauchen.«

»Wir haben genug Gold für die nächsten paar Wochen«, erwiderte Grace unbeirrt. »Und danach schauen wir eben weiter.«

Eine eiskalte Klaue schlang sich um Kailins Herz. Was, wenn es kein Danach mehr gibt?, wollte sie sagen, brachte die Worte jedoch nicht über ihre Lippen. Die Narbe auf ihrer Haut prickelte und sie schluckte schwer.

»Im Endeffekt ist es Kailins Entscheidung«, meinte Kidd. »Sie ist die Kapitänin.«

Augenblicklich richteten sich alle Blicke auf sie. Sie las so viele verschiedene Gefühle in den Gesichtern ihrer Mannschaftsmitglieder – Unsicherheit, Zögern, Hoffnung.

Die Klaue wurde enger, schnitt ihr für ein paar Wimpernschläge die Luft ab. Sie atmete tief aus.

»Ich schlage vor, wir informieren uns erst einmal darüber, wo diese Prinzessin überhaupt festgehalten wird«, beschloss sie schließlich. »Wenn es zu gefährlich sein sollte, können wir die Sache immer noch abblasen.«

Calico grummelte leise, Grace verschränkte die Arme vor der Brust und Will seufzte. Einzig Kidds Ausdruck hellte sich bei Kailins Worten sichtbar auf. Er hatte recht: Im Endeffekt lag die Entscheidung bei ihr. Die anderen mochten es vielleicht nicht ahnen, doch sie würden dieses Geld bald schon dringender gebrauchen, als ihnen möglicherweise lieb war. Wenn das nämlich stimmte, was die Seehexe Kailin vor so vielen Monden in jener Höhle prophezeit hatte, würde sie bald nicht mehr am Leben sein. Und verflucht seien die klirrend kalten Meere des Nordens, wenn sie vor ihrem Tod nicht Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, um ihrer Mannschaft ein besseres Leben zu ermöglichen.

 

Kailin, Abend des 35. Tages

 

»Eine Prinzessin, ja?« Der Tavernenbesitzer spuckte in das Handtuch zwischen seinen Fingern und machte sich daran, die hölzerne Theke vor ihm blank zu putzen.

»Gwennaelle von Auenwies«, erklärte Kailin und schob die Zeichnung der Prinzessin zu ihm hinüber. »Soll von einer Hexe entführt worden sein und sich irgendwo auf den Hundert Inseln befinden.«

Das war alles, was sie in den letzten Wochen über die geheimnisvolle Prinzessin hatten erfahren können. Dutzende Häfen hatten sie angesteuert, auf der Suche nach jemandem, der ihnen mehr über ihren Aufenthaltsort hätte erzählen können – vergebens. Einzig ein betrunkener alter Seefahrer in einer versifften Taverne in Bainbourg hatte sich an Gerüchte erinnert, die vor ein paar Jahren mal die Runde gemacht hatten: über eine alte Frau mit einem ohnmächtigen kleinen Mädchen, die in einer gigantischen Explosion auf einer der Südinseln aufgetaucht seien. Ein paar Wäscherinnen hätten sie dabei beobachtet, wie sie in Richtung Hafen verschwunden waren – vermutlich, um ein Schiff zu besteigen. Wohin sie unterwegs gewesen waren, hatte ihnen jedoch niemand sagen können.

»Mhm«, sagte der Tavernenbesitzer und musterte die Zeichnung vor ihm. Er warf sich das Handtuch über die Schulter und schob das Stück Papier wieder zu Kailin zurück. »Nein. Noch nie gesehen.«

»Sie war hier«, beharrte Kailin. »Hier in Cartalid.«

Der Tavernenbesitzer lachte – ein Geräusch, als würde Kro’l selbst in ihm zum Leben erwachen. »Hast du dich schon mal umgesehen, Schätzchen? Niemand kommt freiwillig nach Cartalid und jeder, der es sich leisten kann, flieht aus diesem verdammten Drecksloch. Nie im Leben würde eine Prinzessin freiwillig Fuß auf diese Insel setzen.«

»Sie wurde entführt«, beharrte Kailin. Sie senkte die Stimme, auch wenn das Innere der Taverne bis auf eine kapuzenbedeckte Gestalt in einer Ecke des Raumes und einem vom Rum bewusstlos gewordenen Seefahrer leer war. »Von einer Hexe.«

Ärger huschte über die Züge des Tavernenbesitzers. Er warf einen hastigen Blick nach links und rechts, bevor er Kailin zuraunte: »Kein Gerede von Magie in meiner Taverne, verstanden? Ich hab auch so schon genug Ärger, ohne dass du mir die Garde auf den Hals hetzt.«

»Entspann dich«, sagte Kailin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Es sind keine Gardewächter in der Nähe stationiert. Oder denkst du wirklich, es interessiert den Kaiser, was ein paar Seeleute in einer Taverne am Arsch der Welt miteinander diskutieren?«

Der Tavernenbesitzer grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und wandte sich dann ein paar Rumkrügen auf dem Regal hinter ihm zu.

»Ich weiß nichts darüber, und ich habe keinerlei Interesse daran, das zu ändern«, stellte er klar.

Kailin zog ihren Geldbeutel aus der Tasche und stellte ihn, hörbar klingelnd, vor sich auf die Theke. »Nicht einmal für den richtigen Preis?«

Kurz versteifte sich der Tavernenbesitzer, dann jedoch setzte er seine Arbeit stur weiter. »Verzieh dich. Ich will nichts mit dem zu tun haben.«

Eine weitere Sackgasse.

Mit einem Seufzer gab sich Kailin geschlagen. Gedankenverloren rieb sie sich mit dem Daumen über ihren Haken an der rechten Hand. Sie spürte die Müdigkeit des vergangenen Tages auf sich lasten. Eigentlich hätte sie schon längst zurück auf der Roten Räuberin sein sollen, aber sie hatte nicht aufgeben wollen, ohne zumindest alle Möglichkeiten ausgenutzt zu haben. Sie hoffte nur, dass die anderen heute mehr Glück gehabt hatten.

Als sie sich umdrehte, um sich vom Hocker auf den Boden gleiten zu lassen, fing sie den Blick der kapuzenverhüllten Gestalt in der Ecke der Taverne auf. Es war ein junger Mann mit einer markanten Narbe, die sich schräg über sein gesamtes Gesicht zog. Er zuckte zusammen, als er bemerkte, dass Kailin ihn beobachtete. Dann stand er überstürzt auf und verließ die Taverne mit schnellen Schritten.

Kailin legte ein paar Goldmünzen auf die Theke, bevor sie dem jungen Mann hinterhereilte. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, nachdem sie zur Tür hinausgestürmt war, vermischt mit dem unvergleichlichen Gestank von Fischabfällen und trockenem Seegras. Vor ihr erstreckte sich eine schwach beleuchtete Straße, die sich zwischen ein paar Steingebäuden hindurchschlängelte. Der junge Mann verschwand gerade in einer dunklen Gasse am Ende der Straße.

Sie folgte ihm.

Hier war der Gestank noch penetranter als zuvor. Links und rechts von ihr türmten sich Berge an Essensresten und Abfall hoch. Die Dunkelheit war allumfassend, einzig und allein vom Licht des Mondes über ihr durchbrochen.

»Hallo?«, rief Kailin in die Stille hinein.

Keine Antwort.

»Ich weiß, dass du hier bist«, fuhr sie fort. Sie hatte keine Schritte gehört, die sich von der Gasse entfernten. Also musste er hier sein.

Links von ihr löste sich jemand aus den Schatten und ging mit hoch erhobenem Messer auf sie zu. Kailin wich zur Seite aus und schlug dem Angreifer mit dem Haken das Messer aus der Hand. Er stolperte beinahe über seine eigenen Füße und taumelte zurück, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Doch so weit ließ Kailin es nicht kommen. Sie warf sich ihm entgegen und drückte ihn grob gegen die Wand der Gasse, den Arm auf seinen Kehlkopf gepresst.

Dem jungen Mann entwich ein leises Wimmern. »Was willst du von mir?«, brachte er erstickt hervor.

Kailin lockerte ihren Griff etwas, aber nur so weit, dass der Mann besser atmen konnte. »Ich habe dich in der Taverne gesehen. Wie du mich angestarrt hast. Du weißt etwas über die Prinzessin, nicht wahr?«

Ein weiteres Wimmern. »Ich … ich weiß gar nichts.«

Drohend hob sie den Haken. »Je weniger du lügst, desto schneller ist das hier vorbei, mein Freund.« Sie hatte nicht vor, ihm etwas anzutun, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen.

Der Mann drehte den Kopf weg von ihr. Er zitterte am ganzen Körper. »Also gut. Ich weiß, wo sie sich aufhält.«

»Die Prinzessin?«

»Und die Hexe«, antwortete er und schluckte. Sein Adamsapfel bebte sichtbar. »Vor ein paar Monden haben ein paar Gardewächter Freiwillige gesucht, die ihre Truppeneinheit auf eine Expedition begleiten. Ich brauchte das Geld, also habe ich mich gemeldet. Uns wurde erklärt, dass wir eine verlorene Prinzessin suchen würden.«

Kailin runzelte die Stirn. »Das ergibt keinen Sinn. Welches Interesse hätte der Kaiser daran, eine Prinzessin aus einem verfeindeten Reich zu retten?«

Vielleicht hatte er sie als Druckmittel für diplomatische Verhandlungen nutzen wollen. Das wäre ihm auf jeden Fall zuzutrauen gewesen.

»K-kein Ahnung«, stammelte der Mann. »Sie haben uns keine weiteren Informationen gegeben. Wir sind einfach losgesegelt.«

»Wohin?«, verlangte Kailin zu erfahren.

»Eine k-kleine Insel s-südlich von Bainbourg. Da war früher mal ein Fischerdorf. Jetzt ist alles verlassen.«

»Bis auf die Hexe«, schloss Kailin. Der Mann zuckte bei der Erwähnung zusammen.

»Wir hatten keinen Schimmer, worauf wir uns einließen.« Panik schlich sich in seine Stimme und seine Worte begannen sich zu überschlagen. »Da war dieser Turm und … die Prinzessin wird wohl irgendwo da drin gefangen gehalten, aber … Bei der Meeresmutter, die Götter hatten sich gegen uns verschworen!«

Ein ungutes Gefühl beschlich Kailin. »Was ist passiert?«

»Es war ein Gemetzel. Eine ganze Truppeneinheit, zerstört in wenigen Atemzügen. Ich rannte, so schnell ich nur konnte.« Die Erinnerung trieb dem Mann Schweiß auf die Stirn und seine Atemzüge gingen hektischer. »Tagelang irrte ich im Dschungel umher, bis mich ein paar gnädige Seeleute schließlich halb-tot am Ufer liegen sahen und mitnahmen. Ich habe es allein Lor’ks Gnade zu verdanken, dass ich noch am Leben bin.«

»Wer hat euch angegriffen?«, hakte Kailin nach.

Der Mann riss seine Lider auf, sodass die roten, aufgeplatzten Äderchen auf seinem Augapfel sichtbar wurden. »Da lebt ein Dämon auf dieser Insel«, wisperte er. »Eine grausame Kreatur mit einer Macht, wie sie kein Lebewesen je innehalten sollte. Der Ort ist verflucht, verstehst du? Jeder Seefahrer, der dorthin segelt, ist dem Untergang geweiht.«

Kailin spürte, wie Gänsehaut über ihren Körper kroch. Sie ließ den Mann los. Er stolperte zur Seite, bevor er zu lachen begann, ein schräges, hilfloses Geräusch, das an den Wänden der Gasse widerhallte. Sie sah ihm nach, bis er taumelnd in der Finsternis verschwunden war.

 

Kailin, Abend des 27. Tages

 

Es gab nicht viele Dinge, die Kailin so sehr liebte wie das Gefühl des Windes in ihren Haaren und der Geschmack von Salz und Weite auf ihren Lippen. Am Himmel hatte sich ein Teppich aus Sternen ausgebreitet, der nur von einzelnen zerrissenen Wolken überschattet wurde. Laut klatschten die Wellen gegen den Bug des Schiffs, während die Rote Räuberin sich zielsicher ihren Weg durch das tintenschwarze Meer schnitt.

Kailin ließ ihre Finger für ein paar Augenblicke auf dem feuchten Holz des Steuerrads verweilen. Die Luft war kalt, aber nicht schmerzhaft, und die Nacht so klar wie schon seit Wochen nicht mehr. Sie hatten in den letzten Tagen gut Zeit wettmachen können. Wenn es so weiterging, würden sie ihr Ziel sogar früher erreichen als geplant.

Ein Schatten baute sich in ihrem Augenwinkel auf. Calicos Gestalt war im halbschwarzen Nachtlicht noch eindrücklicher als sowieso schon. Wie ein Titan thronte er über Kailin, seine Muskeln angespannt, die Lippen wie immer verschlossen. Auf seinem Gesicht lag eine unausgesprochene Aufforderung.

»Bist du sicher?«, fragte Kailin. »Ich bin noch nicht müde. Du kannst gerne zu den anderen unter Deck stoßen, wenn du magst.«

Calico schüttelte den Kopf, dann legte er seine massive Hand auf ihre Schulter und drückte sie sanft. Auch ohne Worte verstand Kailin, was er ihr zu sagen versuchte: Ruh dich aus. Ich übernehm das hier.

Ein Seufzen entglitt ihr. »Danke dir.«

Calico nickte nur, bevor er sich an ihrer Stelle vors Steuerrad stellte und die Augen zusammenkniff, um seinen Blick über das Meer schweifen zu lassen. In einer klaren Nacht wie dieser waren zwar keine Stürme zu erwarten, aber das änderte nichts daran, dass die Gewässer oft von Piratenschiffen durchsegelt wurden. Kailin musste es wissen – immerhin befanden sie sich selbst auf einem.

Sie trat die paar Stufen hinab aufs Deck, das nur spärlich mit ein paar Fackeln beleuchtet war – eine Sicherheitsvorkehrung, um die Rote Räuberin im Dunkel der Nacht so unsichtbar wie möglich zu machen. Danach kletterte sie über die Luke unter Deck. Angenehme Wärme schlug ihr entgegen, vermischt mit dem Geruch von abgestandener Luft und altem Rum. Schon von Weitem hörte sie die Stimmen ihrer Mannschaftskameraden. Grace, Kidd und Will hatten sich zwischen den Lebensmittel- und Wasservorräten zusammengesetzt und spielten Karten auf einem halbhohen Fass, das als notdürftiger Tisch diente.

»Ich habe nicht betrogen!«, empörte sich Kidd gerade.

Grace verdrehte die Augen und sortierte gelangweilt das Kartendeck in ihrer Hand. »Offensichtlicher hättest du es nicht anstellen können.«

Kidd schnaufte. »Wenn ich wirklich betrügen würde, warum habe ich dann gerade verloren, hm?«

»Weil du ein noch schlechterer Betrüger als Lügner bist«, murmelte Will.

Kidd holte gerade Luft zu einem weiteren Verteidigungsversuch, als Grace Kailins Kommen endlich bemerkte.

»Oh, hey. Lust auf eine Runde Toter Vogel?« Sie grinste. »Ich bin am Gewinnen.«

An einem anderen Tag hätte sie Kailin nicht zweimal fragen müssen. Heute jedoch schüttelte sie schmunzelnd den Kopf. »Nein, danke. Ich will dir nicht im Weg stehen, wie du Kidd eigenhändig fertigmachst«, antwortete sie.

»Hey! Wann habt ihr euch eigentlich alle gegen mich verschworen?«, empörte sich Kidd.

»Seit ich gezwungen wurde, mir mit dir einen Körper zu teilen«, antwortete Will trocken, konnte jedoch nicht verhindern, dass ein feines Lächeln über seine Lippen tanzte.

»Schon wieder diese Negativität«, grummelte Kidd. Er legte sich seine Hand auf die Brust und seufzte theatralisch. »Ach, wie soll mein Herz nur so viel Schmerz ertragen können?«

»Unser Herz«, korrigierte Will ihn.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es meins ist.«

»Willst du damit sagen, dass du derjenige bist, der uns am Leben erhält?«

»Natürlich. Ich dachte, das sei offensichtlich.«

»Jungs!« Grace hatte das Sortieren ihrer Karten abgeschlossen und warf den beiden einen genervten Blick zu. »Können wir jetzt endlich weitermachen?«

Die Zwillinge murmelten etwas Unverständliches vor sich hin, aber dann konzentrierten sie sich wieder aufs Spiel. Kailin beschloss, die Gruppe in Ruhe zu lassen, und verabschiedete sich in den hinteren Teil des Schiffbauchs.

Ihre Kajüte befand sich am anderen Ende – ein großer, hölzerner Raum, der mit staubigen Teppichen ausgelegt war. Links stand ein Bett, rechts war eine kleine Sitzecke mit einem Kamin, in dem noch ein paar wenige Kohlen glommen. Die meisten Möbelstücke waren Überreste des Vorbesitzers der Roten Räuberin. Kailin hatte sich nie die Mühe gemacht, sie wegzuräumen. Der einzige Ort hier drin, der wirklich ihr gehörte, war der Schreibtisch und die Dutzenden Karten, die an der Wand darüber befestigt waren. Sie zeigten die Hundert Inseln, die Strömungen und Seewege und die wichtigsten Häfen und Schwarzmärkte, die sie regelmäßig besuchten. Doch Kailins wahrer Stolz war die Karte der fernen Königreiche, die sie vor ein paar Monaten von einem fahrenden Händler erworben hatte. Obwohl sie weder die Schriftzeichen noch die Markierungen verstand, löste allein der Gedanken an jene unbekannten Lande ein wohliges Gefühl der Sehnsucht in ihr aus. Auch wenn es den feinen Stich bei der Realisation, dass sie in diesem Leben nie die Möglichkeit erhalten würde, diese Länder zu besuchen, nicht vollends überdecken konnte.

Kailin ließ sich vor dem Schreibtisch nieder. Bis auf ein paar verirrte Goldmünzen, einem alten Tintenfass und ein paar ausgebreiteten Seekarten war er völlig leer. Um ehrlich zu sein, wusste Kailin nicht, was sie mit dem Möbelstück überhaupt anfangen sollte. Selbst wenn sie hätte schreiben können, wüsste sie nicht, wofür das gut gewesen wäre. Es gab niemanden da draußen, der auf Briefe von ihr wartete. Und war es nicht sowieso die Aufgabe einer Kapitänin, an Deck ihrer Mannschaft beizustehen, anstatt in einer schlecht beleuchteten Kajüte über irgendwelchen Papieren zu brüten?

Dennoch konnte sie nicht abstreiten, dass es sich gut anfühlte, am Schreibtisch zu sitzen. Unerklärlich offiziell, auch wenn sie keinerlei Titel oder Orden trug. Als würde die Verantwortung auf ihren Schultern jedes Mal, wenn sie sich in den gepolsterten Sessel sinken ließ, etwas leichter werden.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Sie räusperte sich. »Ja?«

Es waren nicht wie erwartet Grace und die Zwillinge, die auf der Schwelle standen und nach einem Nachschub Rum verlangten, sondern eine groß gewachsene Frau. Morgan d’Olonnais war die Art von Mensch, die sofort alle Blicke auf sich zog, wenn sie einen Raum betrat. Sie trug ein langes, blaues Kleid, das ihre hervortretenden Schlüsselbeine betonte und an der Seite aufgeschlitzt war, um die weißen Beine zu offenbaren. Rote, flammende Locken fielen ihr bis knapp zu den Hüften und umrahmten ihr Gesicht, das mit feinen Falten durchzogen war. An jedem einzelnen Finger funkelten Edelsteine in allen erdenklichen Farben.

»Morgan«, entfuhr es Kailin. »Ich dachte, du seist bereits zu Bett gegangen.«

»Glaubst du wirklich, es sei möglich, auch nur an Schlaf zu denken, solange sich Grace und Kidd da draußen gegenseitig die Köpfe einschlagen?« Sie schüttelte schmunzelnd den Kopf. Obwohl Morgan einige Jahre älter war, war in ihrem Gesicht nichts der Bitterkeit zu lesen, die Kailin von ihrer eigenen Mutter kannte. Da war lediglich dieses sanfte, wissende Lächeln, das sie augenblicklich jünger erscheinen ließ, sogar wenn es weitere Falten in ihre Haut drückte.

»Ich kann sie anweisen, ruhiger zu sein«, schlug Kailin vor. Nach kurzem Nachdenken verzog sie das Gesicht. »Oder ich kann es zumindest versuchen.«

Morgan winkte ab. »Nicht doch, mein Kind. Deswegen bin ich nicht hier.« Sie zog einen Stuhl heran und ließ sich gegenüber von Kailin nieder.

»Oh. Stimmt etwas mit den Kristallen nicht? Wir können am nächsten Hafen einen Zwischenhalt machen, wenn du willst.«

Gelassen schlug Morgan die langen Beine übereinander. »Mit den Kristallen ist alles in Ordnung, keine Sorge. Falls uns an unserem Zielort tatsächlich eine Hexe erwarten sollte, sind wir bestens vorbereitet.« Als wolle sie ihr Argument unterstreichen, fixierte sie die Ringe an ihren Fingern prüfend. Wenn man genau hinsah, konnte man die winzigen Nebelschwaden erkennen, die sich im Inneren der Steine bewegten – fast so, als wären sie am Leben. Kailin erschauderte und riss ihren Blick schnell fort.

»Was bringt dich dann hierher?«, fragte sie, bevor sie der seltsamen Anziehungskraft der Steine verfallen konnte.

Morgan faltete ihre Hände im Schoss. »Ich denke, du kennst den Grund. Dies ist eine überaus gefährliche Mission. Die Belohnung mag hoch ausfallen, aber genauso hoch ist das Risiko, den Gefahren auf dem Weg dahin zu erliegen.«

Kailin schluckte schwer. Sie zwang sich, die Unruhe nicht anmerken zu lassen, die sich in ihrem Inneren breitmachte. Nach dem, was sie von dem Mann in der Taverne in Cartalid erfahren hatte, war klar, dass Morgans Befürchtungen sich durchaus bewahrheiten könnten. Das war eine gefährliche Mission. Aber es ging hier um mehr als nur Geld, auch wenn sie das Morgan niemals sagen konnte.

»Wir begeben uns ständig auf riskante Missionen«, wandte sie also ein. »So überleben wir. Wir finden freie Aufträge in Tavernen, erledigen sie und sacken die Belohnung ein.«

»Ich kann mich an eine Zeit entsinnen, als solche Abenteuer die Ausnahme waren, nicht die Normalität.«

Sie hatte recht. Bis vor ein paar Monden hatten sie die größte Zeit auf See verbracht, hatten Handelsschiffe überfallen oder unwissende Adelige ausgeraubt, die sich versehentlich in diese Gewässer verirrt hatten. So hatten sie sich ihren Ruf aufgebaut – die Mannschaft, die kaum genug Mitglieder besaß, um eine einzelne Kanone zu bedienen, und doch mehr Schiffe versenkt hatte als manch andere während ihrer Lebzeiten.

»Möglicherweise ist mein Eindruck falsch«, fuhr Morgan fort, »aber es fühlt sich an, als würdest du immer mehr Risiken eingehen, ohne dabei die Sicherheit deiner Mannschaft zu berücksichtigen.«

»Ich setze die Sicherheit der Mannschaft immer an erster Stelle«, sagte Kailin, ohne verhindern zu können, dass ihre Stimme laut wurde.

Morgan zog eine Augenbraue hoch. »Wir haben genug Gold für die kommenden Wochen, und Ruhm und Ehre sind es nicht wert, unser aller Leben aufs Spiel zu setzen. Denkst du nicht auch?«

»Es geht hier nicht um Ruhm und Ehre.«

»Worum geht es dann?«

Um eure Zukunft, wollte Kailin sagen, doch die Worte verstarben auf ihrer Zunge. Für einen kurzen Moment war sie versucht, Morgan alles zu erzählen: vom Fluch, der auf ihr lastete, vom Tod, der sie bald einholen würde, von ihren Plänen, ihrer Mannschaft ein besseres Leben zu ermöglichen mit dem Geld, das sie nun erbeuten würden. Aber es gelang ihr nicht. Stattdessen presste sie die Lippen aufeinander und starrte zu Boden.

»Ich habe meine Gründe«, sagte sie. »Alles, worum ich dich bitte, ist dein Vertrauen.«

Morgan schwieg einen Moment. Ihre grünen Smaragdaugen schienen bis auf den Grund von Kailins Seele zu starren. Schließlich atmete sie durch. »In Ordnung. Aber du weißt, dass du jederzeit mit mir reden kannst, nicht wahr?«

»Ich weiß.« Schmerz zog sich in Kailins Brust zusammen. »Gute Nacht, Morgan.«

Die Magierin sah sie prüfend an. »Gute Nacht, mein Kind.«

 

Kailin, Tag 23

 

Sie segelten für sieben Tage und sieben Nächte, bis sich am Morgen des achten Tages endlich Land am Horizont abzeichnete. Die Insel war größer, als Kailin vermutet hatte – eine mächtige, schwarze Erhebung gegen den stahlblauen Himmel. Sie fanden eine kleine Bucht an der Südseite und ankerten die Rote Räuberin im Schatten einer hohen Klippe, die sie vom Meer aus für Plünderer und Piraten unsichtbar machen würde. Den Rest des Weges legten sie mit dem Ruderboot zurück.

Die Bucht wurde zu einem Großteil von einem feinen Sandstrand eingenommen, von denen es unzählige auf den Hundert Inseln gab. Dahinter begann ein dichter Wald, der – soweit Kailin es bei der Anreise aus der Ferne aus hatte einschätzen können – einen Großteil der Insel bedeckte.

»Also, Mannschaft.« Mit einer energischen Bewegung drehte sie sich zu den anderen um. »Wir wissen, dass sich unsere Prinzessin hier irgendwo in einem Turm befinden muss. Ich schlage vor, wir teilen uns auf und durchkämmen die Insel strategisch auf der Suche nach dem Turm. Sobald wir ihn gefunden haben, senden wir ein Signal aus. Morgan?«

Auf Kailins Aufforderung hin, zog Morgan fünf sorgfältig gefertigte Ringe mit rot leuchtenden Edelsteinen aus der Tasche und reichte sie den anderen. »Wenn ihr den Turm gefunden habt – oder in Schwierigkeiten stecken solltet –, dann zerbrecht den Edelstein. Dies wird uns auf euren Standort aufmerksam machen.«

Grace, Kidd und Will nickten aufmerksam, bevor sie sich die Ringe an die Hände steckten. Calico nahm seinen zögernd entgegen, während Kailin ihren schnell in der Hosentasche verschwinden ließ.

»Es ist wichtig, dass ihr Abstand haltet, sobald ihr den Turm gefunden habt«, fuhr sie fort. »Je weiter ihr euch fernhaltet, desto besser. Keine Alleingänge, in Ordnung? Wartet ab, bis wir zu euch aufgeschlossen haben. Wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben – nur, dass es gefährlich ist. Nähert euch also auf keinen Fall allein.« Ihr Blick blieb an Grace hängen, woraufhin diese nur mit den Augen rollte. »Unser Ziel ist es, die Prinzessin aus dem Turm zu befreien, und dabei am Leben zu bleiben. Kidd?«

Kidd zog das zerknitterte Stück Pergament aus der Tasche, auf dem die Prinzessin abgebildet war. Er faltete es auf, sodass alle einen guten Blick darauf werfen konnte. Nicht, dass Kailin befürchtete, die Prinzessin nicht zu erkennen – sie bezweifelte, dass viele halbwüchsige Kinder auf dieser Insel herumrannten. Aber man konnte nie sicher genug sein.

»Will und ich haben alle größeren Kartografen in der Nähe aufgesucht, aber keiner von ihnen hatte eine aktuelle Karte der Insel«, erklärte Kidd, nachdem er das Papier wieder eingesteckt hatte. »Also müssen wir uns mit einer veralteten Version begnügen. Anscheinend war hier bis vor ein paar Jahrzehnten mal eine kleine Fischersiedlung, die inzwischen allerdings verlassen ist. Seit die Menschen die Insel verlassen haben, wurde keine aktuelle Karte der Gegend mehr angefertigt. Seid also vorsichtig, wenn ihr euch durch den Dschungel bewegt.«

»Falls wir keinen Erfolg haben sollten«, setzte Kailin ihre Erklärung fort, »treffen wir uns bei Anbruch der Nacht wieder hier. Verstanden?« Sie sah in die Runde. Ein widerspruchsloses Nicken war die Antwort. »Calico wird bis dahin hier bleiben und die Lage im Blick halten, falls jemand von euch früher zurückkehrt als geplant.«

Der Hüne grummelte zustimmend, sichtlich erleichtert darüber, sich nicht mit dem Rest der Mannschaft ins Innere der Insel begeben zu müssen. Auch wenn seine breite, kastenartige Gestalt etwas anderes vermuten ließ, war Calico kein Kämpfer – nicht mehr, zumindest. Er bevorzugte es auf den meisten Missionen, an Bord der Roten Räuberin zurückzubleiben.

Nachdem Kailin sich versichert hatte, dass ihre Instruktionen klar waren, teilten sie sich auf, Kidd und Will in eine Richtung, Grace in die andere. Morgan prüfte noch einmal ihre Ringe, dann verschwand sie ebenfalls. Kailin tat es ihr kurze Zeit später gleich.

Sie tauchte in das Dickicht des Dschungels ein, der sich hinter dem Strand auftat. Bereits nach wenigen Minuten musste sie ihr Entermesser hervorziehen, um zwischen den dichten Bäumen überhaupt einen Weg zu finden. Sie schlug Ranken und Äste weg, schob herabhängende Lianen zur Seite und kletterte über hohe Wurzeln am Boden. Die Luft war schwül und heiß und trieb ihr schon bald den Schweiß aus den Poren. Kitzelnd sammelte er sich an ihrer Stirn und rann über ihre Wangen. Dornen rissen an ihrem Mantel und ihrem Hut, den sie irgendwann dauerhaft mit dem Haken festhalten musste, um ihn nicht zu verlieren. Über dem gesamten Wald lag ein dumpfes Rauschen: Das Geräusch von Wasser und Wind irgendwo in der Ferne und dazwischen das Gezwitscher von Vögeln und anderen Tieren, von denen Kailin die meisten nicht einmal benennen konnte.

Nach ein paar Stunden lichtete sich der Wald etwas und Kailin legte die erste Verschnaufpause ein. Sie ließ sich auf einem Stein nieder und schraubte den Haken an ihrem rechten Arm ab. Unter der Konstruktion aus Leder und den Schnallen, mit denen sie den Haken befestigen konnte, hatte sich ein feiner Schweißfilm gebildet. Die Stelle kurz nach ihrem Ellbogen, wo ihr Arm aufhörte, wies sichtbare Druckstellen auf und schmerzte pochend. Sie spülte sie mit etwas Wasser aus ihrem Trinksack aus, dann befestigte sie den Haken wieder an ihrem Arm und ging weiter.

Irgendwann, nachdem die Sonne ihren Zenit längst überschritten hatte, wurde Kailin klar, dass es sich als größere Herausforderung herausstellen würde als erwartet, den Turm zu finden. Die anderen schienen genauso erfolglos in ihrer Suche zu sein, denn bisher hatte noch niemand von ihnen ein Signal ausgesendet. Wie schwer konnte es sein, einen Turm auf einer Insel aufzuspüren? Kailin hatte gehofft, ihn bereits bei der Ankunft vom Meer aus erkennen zu können. Aber mit dem Fernrohr hatte sie nichts ausfindig machen können. Vielleicht war er einfach kleiner als in ihrer Vorstellung.

So oder so brauchte sie einen besseren Ausgangspunkt für die Suche. Der Dschungel war zu dicht, um mehr als ein paar Meter weit zu sehen, und wenn sie so weitermachte, würden sie die nächsten Tage beschäftigt sein. Sie musste sich von einem höheren Standort aus einen Überblick verschaffen.

Kailin verließ den Pfad, den sie freigeschlagen hatte, und begann damit, eine kleine Anhöhe hinaufzusteigen. Doch selbst, nachdem sie die Spitze des kleinen Hügels erreicht hatte, standen die Bäume um sie herum zu nahe, um einen Blick in die Ferne zu ermöglichen. Sie überlegte sich gerade, ob sie es wagen sollte, einen von ihnen zu erklimmen – sie war keine gute Kletterin, aber das hatte sie noch nie zuvor abgehalten –, als sie das Beben spürte. Es begann im Boden unter ihren Füßen und breitete sich dann schlagartig auf die umliegenden Büsche und Bäume aus. Kailin stolperte ein paar Schritte zurück. Das Donnern kam wenig später; ein Knall, so laut, dass er einen Schwarm Vögel aus ihren Nestern trieb und sie krächzend gen Himmel stoben. Es ging über in ein dumpfes Grollen, während das Zittern weiter in unregelmäßigen Stößen durch den Boden fegte.

Keuchend hielt sich Kailin an einem Baum fest. Ein mausähnliches Tier mit rotem Fell jagte unter ihren Beinen hindurch und verkroch sich quietschend unter einem Gebüsch. In der Ferne ertönte das aufgebrachte Schnattern von Flughunden.

Was um alles in der Welt geschah gerade? Ein Erdbeben? Nein, das hätte die Tiere der Insel nicht so überrascht. Sie hatten einen siebten Sinn für solche Dinge und wussten, wann sie sich in Sicherheit zu bringen hatten. Außerdem wusste Kailin, die ihr gesamtes Leben auf den Hundert Inseln verbracht hatte, wie es sich anfühlte, wenn die Erde bebte. Die Ipaha – die ersten Siedler, die sich auf den Inseln niedergelassen hatten – glaubten, dass es ein Zeichen dafür war, dass der Erdenvater Kro’l aus seinem Schlaf gerissen worden war und seinen Unmut kundtat. Aber das hier war anders. Das Donnern kam nicht wie sonst aus dem Boden, sondern von irgendwo aus der Ferne.

Eine Explosion?

Nach ein paar Augenblicken ebbte das Zittern ab und Kailins Anspannung legte sich. Sie verharrte einen Moment lang in ihrer Position, um sicher zu gehen, dass das Beben nicht wiederkehrte. Dann schlug sie die Richtung ein, aus der das Donnern gekommen war. Sie rutschte den Hügel hinab und schlitterte in eine kleine Grube am Ende der Erhöhung. Etwas knackte unter ihren Füßen und als sie hinabsah, erstarrte sie. Unter ihren Schuhsohlen lagen verrostete Helme und Schwerter, achtlos in diese Grube hineingeworfen, die beinahe schon vom Dschungel verschluckt worden war. Zwischen den Rüstungsteilen entdeckte Kailin die weißen Überreste von Schädeln und anderen Knochen. Ein Schauder lief ihre Wirbelsäule herunter. Das erklärte wohl, wie es den anderen Suchtrupps ergangen war, die sich bisher auf diese Insel gewagt hatten. Der Mann aus Cartalid hatte also die Wahrheit erzählt.

Sie riss ihren Blick vom Grab los. Mit gezogenem Entermesser kämpfte sie sich durch Wände aus Lianen und Ranken und stolperte plötzlich in helles Tageslicht. Es war grell genug, um Kailin für einen Augenblick die Sicht zu rauben und die Welt in verschiedene Töne aus Weiß zu tauchen, die erst nach und nach mit Farbe gefüllt wurden. Sie schirmte sich geblendet die Augen mit der Hand ab und wartete, bis diese sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.

Sie war auf einer Lichtung angekommen, ein baumloser grüner Fleck inmitten des Dschungels, der ohne Zweifel von Menschenhand geschaffen sein musste. In der Mitte der Lichtung stieg sanfter, weißer Nebel hoch – nein, kein Nebel, wie Kailin bei genauerer Betrachtung feststellte. Rauch. Die Umrisse von hohen Felsen, die scheinbar willkürlich zu einem Haufen zusammengeschaufelt worden waren, zeichneten sich darin ab.

Kailin verstärkte den Griff um ihr Entermesser und ging vorsichtig auf die Konstruktion zu.

Je näher sie kam, desto klarer wurde ihr, dass die Felsen in Wirklichkeit die Überreste von steinernem Mauerwerk waren, das in sich zusammengebrochen war. Der Rauch wurde dichter und brannte in Kailins Brust. Sie zog ein Tuch aus ihrer Manteltasche und hielt es sich schützend gegen die Nase, auch wenn es nicht verhindern konnte, dass ihre Augen tränten.

Was um alles in der Welt war hier geschehen?

Kailin kam neben einem Felsblock zum Stehen, in den eine rot bemalte Holzkonstruktion eingelassen war. Eine Tür, stellte sie verwundert fest – obwohl kaum noch etwas von ihrer einstigen Pracht übrig war. Diese Überreste waren mehr als nur altes Mauerwerk. Das musste ein Gebäude gewesen sein.

Der Turm.

Jetzt konnte Kailin es deutlich spüren: Das sanfte Prickeln auf ihrer Haut. Es kitzelte wie feine, unsichtbare Nadelspitzen auf ihrem Gesicht, hatte die Luft mit seiner Wärme geschwängert und hing wie schwerer Dunst über der Gegend. Residuum, nannte Morgan dieses Phänomen – das unverkennbare Gefühl von kürzlich gewirkter Magie.

Es gab nicht viele Dinge, vor denen Kailin O’Read sich fürchtete. In den letzten paar Jahren, in denen sie die Gewässer der Hundert Inseln befahren hatte, hatte sie alles gesehen: sechzig Fuß große Kraken aus den Tiefen des Finstermeers, eisig-schöne Sirenen an den Klippen von Wildfall und tödliche Stürme während der Regenzeit. Doch Magie hatte etwas an sich, das jeden Urinstinkt in ihr verängstigte, sie allein beim Gedanken daran zu einem zitternden, kleinen Kind werden ließ. Nicht die kontrollierte, eingeschränkte Art, die Morgan ausübte – sondern jene, die ganze Königreiche über Nacht zu Fall gebracht und unzählige Inseln in einem Wimpernschlag von der Karte radiert hatte.

Die Erste Magie.

Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. Jede Muskelfaser in ihrem Körper war zum Zerbersten gespannt. Kurz zog sie in Erwägung, den Ring in ihrer Manteltasche hervorzuziehen und Verstärkung zu holen, aber dafür hätte sie das Entermesser weglegen müssen. Sie wich weiter zurück, nahm das Klopfen ihres eigenen Herzens und das Rauschen ihres Blutes in den Ohren wahr. Sie musste weg, die anderen warnen und Verstärkung holen. Sie war schon viel zu weit vorgedrungen.

Dann hörte sie die Schritte.

Feine, zaghafte Schritte, die sich über zertrümmerte Kieselsteine im Rauch bewegten. Kailins Finger schlangen sich enger um das Entermesser, ihre Beine gingen ganz automatisch in Kampfstellung über. Im Rauch zeichneten sich die Umrisse einer Gestalt ab.

Für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte es sich Kailin, einen Atemzug zu nehmen. Danach schoss sie nach vorne.

Die Gestalt hatte keine Zeit, zu reagieren. Kailin war schnell und flink wie eine Schlange, die ihre Beute in den Blick gefasst hatte, und raste völlig tonlos vorwärts. Die beiden Körper kollidierten miteinander und Kailin drückte ihr Gegenüber mit einem Schrei gegen einen Felsen, der sich aus dem Rauch erhob. Mit dem Haken fixierte sie die Gestalt, mit dem linken Arm presste sie die Klinge des Entermessers gegen den Hals des Unbekannten – eine klare Warnung, dass jede Bewegung tödlich enden konnte.

Kailin hatte erwartet, in das Gesicht einer hageren, mit Runzeln übersäten Alten zu starren. Stattdessen blickte ihr ein Paar blauer Augen entgegen, die vor Angst weit aufgerissen waren, die Winkel mit glitzernden Tränen angefüllt.

Es war eine junge Frau, die vor ihr stand. Groß gewachsen – größer noch als Kailin –, mit von Asche und Schmutz besprenkelter, unnatürlich weißer Haut und knöchellangen, sonnenblonden Wellen. Sie trug ein enges Kleid aus einem geschmeidigen Stoff, der sich um ihren Körper schlang wie eine zweite Haut, und keinerlei Schuhe, obwohl sie gerade in einem Haufen aus Schutt und spitzen Steinen stand.

Kailin stockte der Atem im Hals – und sie hatte keine Ahnung, ob es an ihrer Anspannung lag oder doch der Erscheinung der jungen Frau vor ihr geschuldet war.

»Wer bist du?«, fuhr sie die Fremde an, die daraufhin sichtbar zusammenzuckte. »Sprich oder lern die Schärfe meines Messers kennen!«

Die junge Frau presste sich weiter gegen die steinerne Wand in ihrem Rücken – ein erfolgloser Versuch, sich dem Entermesser an ihrem Hals zu entziehen. Sie schluckte. »Gwennaelle«, brachte sie hervor. »Mein Name ist … Gwennaelle.«

Etwas in Kailins Verstand klickte ineinander. »Was?«

»Das bin ich«, wiederholte diese mit zitternder Stimme, während sich sichtbare Verwirrung in ihrem Gesicht breitmachte. »Gwennaelle von Auenwies, jüngste Tochter des Königspaars von Auenwies, und sechste Erbin in der rechtmäßigen Thronfolge.«

Kailin starrte die Frau vor ihr an. In ihrem Kopf beschwor sie das Bild herauf, das Kidd ihr vor wenigen Stunden am Strand gezeigt hatte. Helle Haare, helle Augen, die blasse Farbe der Bewohner von Auenwies, dieselben runden Gesichtszüge, auch wenn sie mit den Jahren etwas kantiger geworden waren.

Es bestand kein Zweifel: Vor ihr stand die verschollene Prinzessin. Nur war sie kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau.