Ein Diadem aus Blut und Mondschein

10 Jahre vor dem aktuellen Mondzyklus

 

Die Frau im Fernsehen weinte. Sie stand in der Reihe der Verliererinnen im hinteren Teil der Bühne, ihr Gesicht unnatürlich bleich im Licht der grellen Scheinwerfer. Die jungen Frauen um sie herum, alle kaum älter als sechzehn oder siebzehn, blickten brav lächelnd in die Kamera, porzellanweiße Zahnreihen und erdbeerrote Lippen. Nur die Frau mit den dunklen Haaren und den pink gepuderten Wangen schluchzte so sehr, dass ihr ganzer Körper unter ihren hektischen Atemzügen erbebte, Sabber und Rotz Striemen über ihre geschminkte Haut ziehend.

„Warum weint sie?“, fragte Marisol.

Ihre Großmutter war gerade damit beschäftigt, sich ein paar Essensreste mit einem Zahnstocher aus dem Mund zu picken. „Hm?“

Marisol streckte den Zeigefinger in Richtung des Fernsehers, der zwischen dem grünen Kachelofen und dem von Büchern überquellenden Regal eingeklemmt war. Die Bilder der Kandidatinnen des diesjährigen Mondzyklus flackerten über den Bildschirm, bildhübsche junge Frauen aus allen zwölf Provinzen des Reiches. Kurz war die Gewinnerin zu sehen: ein Mädchen aus der Feuer-Provinz, die Mundwinkel so weit hochgezogen, dass sie beinahe die Augenränder zu berühren schienen. Gerade wurde sie mit dem Diadem gekrönt, das sie für das kommende Jahr als Mondkönigin auszeichnen würde. Im Hintergrund waren nach wie vor die Verliererinnen zu erkennen, stramm in einer Reihe aufgestellt wie Puppen in einem Schaufenster.

„Sie weint“, erklärte Marisol, als das Bild der schluchzenden Kandidatin sichtbar wurde. „Warum?“

Ihre Großmutter ließ den Zahnstocher sinken und verengte die Lider, wie sie es immer tat, seit ihre Sehkraft schlechter wurde. „Wohl, weil sie nicht gewonnen hat.“ Sie seufzte. „Du solltest dir das nicht ansehen.“

Marisol stopfte sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund. „Warum nicht?“, fragte sie, Essensreste in alle Richtungen fliegend.

„Weil du sonst auch noch auf die Idee kommst, an diesem Schwachsinn teilzunehmen.“

„Geht nicht. Bin nicht hübsch genug dafür.“

Bei diesen Worten versteifte sich Großmutter. „Wer hat dir das gesagt?“

Marisol zuckte mit den Schultern. „Die Mädchen in der Schule.“

„Dann sag den Mädchen in der Schule, dass ich ihnen nächstes Mal, wenn sie dir einen solchen Unsinn erzählen, eigenhändig den Hintern versohlen werde, ist das verstanden?“

Im Fernsehen hatte die Kandidatin inzwischen zu weinen aufgehört. Ihr Bild war nach wie vor eingeblendet, während der Moderator euphorisch berichtete, wie wunderbar die Auswahl der Mädchen in diesem Mondzyklus doch gewesen sei. Seine Stimme dröhnte nur verzerrt aus dem alten Fernsehgerät, jedes zweite Wort vom Surren der Maschine verschluckt. Für einen Moment flackerte das Bild und auf einmal waren bloß noch weiße Flecken zu sehen, die Worte des Moderators verkommen zu einem Rauschen. Großmutter fluchte. Mit einem Ächzen erhob sie sich aus ihrem Schaukelstuhl, schlurfte zum Fernseher hinüber und versetzte ihm mit ihrem Gehstock einen heftigen Schlag. Ein weiteres Flackern, dann kehrte das Bild zurück. 

Die Kandidatin aus der Wal-Provinz, die bis eben noch geweint hatte, rannte über die Bühne, auf der nun Chaos ausgebrochen war. Sichtbarer Schrecken ging durch die Reihen der Mädchen. Die Gewinnerin starrte der rennenden Kandidatin hinterher, eine Hand schützend um das Diadem auf ihrem Kopf geschlungen. Doch die Verliererin schien sich nicht dafür zu interessieren, steuerte stattdessen mit schnellen Schritten auf eine Tür neben der Bühne zu.

Marisols Kinnlade klappte runter. Einige Erdnüsse purzelten aus ihrem Mund auf ihr Kleid, aber sie nahm es kaum wahr. Eine Kandidatin, die im Finale davonrannte? So etwas hatte sie noch nie gesehen. Selbst Großmutter hatte ihren Zahnstocher fallen gelassen und starrte nun wie gebannt auf den Bildschirm.

Die Kandidatin hatte die Tür schon fast erreicht, als eine der Wachen sie zu fassen bekam. Links und rechts ergriffen die bewaffneten Männer ihre Arme und drehten sie ihr auf den Rücken. Sie schrie auf, wand sich im Griff der Wächter, doch diese ließen nicht von ihr ab. Ihre Gesichter waren ausdruckslose Masken. Sie schienen den Widerstand der Kandidatin nicht einmal wahrzunehmen, schleppten sie seelenruhig zurück auf die Bühne.

„Ihr könnt mich alle mal!“, schrie diese nun, gefolgt von einer Reihe von Schimpfwörtern, die definitiv nicht für Marisols junge Ohren bestimmt waren. „Dieser beschissene Wettbewerb ist bloß eine Lüge! Ihr habt keine Ahnung, womit ihr es hier wirklich zu tun habt! Das ist eine verdammte Farce, hört ihr? Nur ein beschissener Betrug!“

Großmutter grummelte etwas Unverständliches vor sich hin, bevor sie am Regler des Fernsehers drehte und den Ton ausschaltete.

„Das gestellte Drama wird von Jahr zu Jahr schlimmer“, murmelte sie und ließ sich zurück in ihren Schaukelstuhl sinken.

Die Kandidatin aus der Wal-Provinz war inzwischen wieder auf der Bühne angekommen, flankiert von den beiden Wächtern, die sie nach wie vor festhielten. Sie hatte erneut zu weinen begonnen.

„Warum fürchtet sie sich?“, fragte Marisol.

„Wie kommst du denn darauf, dass sie sich fürchtet?“

„Sie sieht aus wie Betty aus meiner Klasse, wenn sie einen Hund sieht. Sie hat Angst.“

Großmutter lehnte sich im Stuhl vorwärts, schob ihre Brille auf ihrem Nasenrücken zurück. „Hm“, meinte sie. „Sie ist nur eine schlechte Verliererin, das ist alles.“

Marisol mochte erst sieben sein, doch sie war nicht doof. Sie wusste, dass Großmutter nicht die ganze Wahrheit sagte. Eine bessere Erklärung fiel ihr allerdings auch nicht ein. Welchen Grund hätte die junge Frau auch gehabt, Angst zu haben? Mutter sagte, dass es eine riesige Ehre für jedes Mädchen in Solidaris sei, am Mondzyklus teilzunehmen. Marisol wusste zwar nicht, was Ehre bedeutete, aber es klang nach etwas Gutem.

Der Vorhang auf der Bühne schloss sich. Die Verliererinnen lächelten tapfer und winkten ein letztes Mal in die Kamera. Dann wechselte das Bild zur Gewinnerin, die gerade von Konfetti überschüttet wurde. Sie würde die nächsten Monate durch alle zwölf Provinzen des Landes reisen, zusammen mit niemand Geringerem als Lord Sol selbst. Das war es, wovon jedes Mädchen träumte: ihm nahe sein zu dürfen. Lord Sol war der einzig wahre Herrscher Solidaris‘, ihr Retter und König. Er hatte das Land vor vielen Jahren vereint und ihnen den ewigen Frieden gebracht. So zumindest hatte es Marisol in der Schule gelernt.

Großmutter drehte am Regler des Fernsehers und wechselte den Kanal. Über den Bildschirm flackerte die Gestalt von Albert Wermor, dem scharfsinnigen Meisterdetektiv mit dem Fedora-Hut – Großmutters Lieblingssendung.

Marisol zog ihre Beine auf den Sessel hoch, auf dem sie sich eingekuschelt hatte, und schlang ihre Decke etwas enger. Der Glanz und Glitzer des Wettbewerbs waren schnell vergessen, während sie gebannt bei Detektiv Wermors Ermittlungen im Fall der verschwundenen Schauspielerin Lola Lipgloss mitfieberte.

 

Doch die verweinten, verängstigten Augen der Verliererin verfolgten sie diese Nacht noch bis in ihre Träume.