1
Als Kiara Brocks an diesem Morgen im Büro ihres seelenlosen Jobs ankam, fand sie dort eine Tür, die gestern noch nicht da gewesen war.
Sie bestand aus dunklem, glatt poliertem Holz mit einem runden, glänzenden Knauf aus Messing. Auf den ersten Blick wirkte sie alt, ein Relikt aus der Zeit von Kiaras Großeltern, auch wenn auf ihrem Knauf weder Fingerabdrücke noch andere Gebrauchsspuren zu entdecken waren. Sie befand sich in der Wand hinter Claudias Schreibtisch, eingebettet zwischen zwei lieblosen Kunstwerken, die aussahen, als hätte sie ein Vierjähriger mit Fingerfarbe auf die Leinwand geschmiert – die deprimierenden Resultate eines Seminars, das ihr Chef besucht hatte, um die „Moral der Mitarbeitenden“ zu steigern.
Die Tür selbst schien das nicht weiter zu beirren. Sie hatte es sich an ihrem Platz bequem gemacht, hatte sich an die Wand geschmiegt, als hätte sie schon immer hierhin gehört. Kurz kam Kiara der Gedanke, dass sie irgendeine Verbindungstür zwischen zwei Büroräumen darstellte und wohl gestern Nacht hier platziert worden war. Aber das ergab keinen Sinn. Selbst wenn es irgendwelchen Handwerkern gelungen wäre, die verputzte Wand in einer einzigen Nacht durchzuschlagen und eine Tür einzusetzen, wäre der gewählte Standort mehr als nur sinnlos. Welchen Zweck erfüllte eine Tür, wenn man jedes Mal über den Schreibtisch einer Kollegin klettern musste, um sie überhaupt zu erreichen?
„Aus dem Weg“, kommandierte einer von Kiaras Arbeitskollegen, als er sich an ihr vorbei drängelte.
Erst jetzt wurde Kiara bewusst, dass sie im Türrahmen zu ihrer Abteilung stehen geblieben war. Geistesabwesend murmelte sie irgendeine Entschuldigung, bevor sie sich daran machte, zu ihrem Platz zu kommen. Den Blick endlich von der mysteriösen Tür losgerissen, hängte sie ihre Tasche über den Stuhl und setzte sich. Der Computer erwachte mit einem Stöhnen zum Leben. Er war ein gigantisches Ungetüm unter Kiaras Schreibtisch, reichte ihr fast bis zum Knie und knatterte und knarzte jedes Mal beim Starten. Kiara war sich ziemlich sicher, dass er sogar noch ein Diskettenfach besaß, so antik war das Ding. Der Bildschirm war nicht viel besser, ein flackerndes Biest mit einem geschwollenen Bauch, der mehr Hitze in dieses Büro ausstrahlte als die Sonne über der Wüste Sahara. Die Ironie, dass ihr Equipment mit großer Wahrscheinlichkeit älter war als sie selbst, entging Kiara nicht.
Während der Computer ratternd startete, schnappte sie sich ihre Kaffeetasse, die noch auf dem Schreibtisch stand. Auf dem Boden waren braune Sprenkel eingebrannt, das eindeutige Resultat vom gestrigen Koffein-Konsum. Die Tasse selbst zeigte ein getigertes Kätzchen, das am Ast eines Baumes hing. Lass uns nicht hängen, stand darunter. Ein Geschenk ihres Managers zum letztjährigen Weihnachtsessen, auch wenn es Kiara eher wie eine Drohung als eine Motivation vorkam.
Sie bahnte sich ihren Weg zwischen Schreibtischen hindurch zur Küche. Obwohl es noch nicht einmal acht war, war das Büro bereits voll, das Klackern von Tastaturen das einzige Geräusch, das sich zum Surren des Ventilators mischte. Als Kiara angekommen war, war sie von ein paar müden Guten Morgens empfangen worden. Doch die meisten ihrer Arbeitskollegen hatten sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt, zu vertieft waren sie in ihre Aufgaben. Wenn sie es recht bedachte, kannte Kiara die Hälfte der Menschen hier drin nicht einmal beim Namen. Sie arbeiteten gemeinsam, sie beschwerten sich ab und zu beim Mittagessen über das Wetter oder das letzte Fußballspiel, aber ihre Leben ließen sie alle hinter der Tür des Bürogebäudes zurück. Kiara war es recht so. Sie war sowieso nicht hier, um Freunde zu finden, auch wenn ihre Mutter stets behauptete, dass ihr das guttun würde.
Sie wechselte ein zahnloses Lächeln mit dem breitschultrigen Mann, der ihr aus der Küche entgegenkam, dann stellte sie ihre Tasse unter die Maschine. Während sie wartete, fiel ihr Blick einmal mehr auf die seltsame Tür hinter Claudias Schreibtisch. Jedes Mal, wenn sie sie länger als ein paar Sekunden anstarrte, explodierte Gänsehaut auf ihrem Körper. Gleichzeitig fiel es ihr schwer, wegzusehen, als würde die ganze Welt zu Schemen und Formen verschwimmen, nur jene Tür war noch scharf und klar zu sehen.
Ein euphorisches „Morgen!“ riss Kiara aus ihrer Starre. Sie drehte sich zu Nina um, welche soeben die Büroküche betreten hatte. Sie war stets gut gelaunt, auf eine Art und Weise, die Kiara an guten Tagen irritierte und an schlechten Tagen zu innerlichen Schreikrämpfen inspirierte. Nina war nur ein paar Jahre älter als Kiara und arbeitete erst seit Kurzem hier – vermutlich einer der Gründe, weshalb dieser Job sie noch nicht ausgesaugt hatte wie Hitze das Wasser aus einer Rosine.
„Morgen.“ Kiara räusperte sich, verlagerte ihren Schwerpunkt von einem Bein aufs andere. Die Kaffeemaschine ratterte noch.
„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Nina. „Du siehst ein wenig blass aus.“
Blass war Kiaras Normalzustand. Wären ihre Sommersprossen und die roten Haare nicht gewesen, wäre sie problemlos mit den zahnarztweißen Wänden des Büros verschmolzen.
Anstelle einer Antwort wandte sie sich wieder der Tür zu. „Hast du das gesehen?“
Nina folgte ihrem Blick stirnrunzelnd. „Was?“
„Die Tür.“
„Hm?“
„Die war gestern noch nicht da. Und überhaupt, wer hielt es für eine gute Idee, sie ausgerechnet hinter Claudias Schreibtisch zu platzieren?“
„Claudias Schreibtisch?“
„Man kann die Tür ja nicht einmal öffnen, ohne sich am Schreibtisch vorbeizudrängen. Wäre es nicht schlauer gewesen, sie im Flur einzubauen? Dort, wo die Menschen tatsächlich durchkommen?“
Nina starrte Kiara an. Die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich und als sie das nächste Mal sprach, schwang hörbare Besorgnis in ihrer Stimme mit. „Kiara, dort ist keine Tür.“
„Wie bitte?“
Nina berührte vorsichtig ihren Arm. „Hast du genug geschlafen in letzter Zeit? Ich hab da diese Bachblütentabletten, die helfen können.“
„Ich habe keine Einschlafprobleme“, sagte Kiara ein Stück lauter, als sie beabsichtigt hatte. Es war eine Lüge. Natürlich hatte sie Einschlafprobleme, die waren seit dem Tod ihres Vaters zur Normalität geworden. Aber in all den Jahren hatte eine schlaflose Nacht noch nie dazu geführt, dass sie plötzlich Dinge halluzinierte.
Nina ließ ihre Hand sinken. „In Ordnung. Aber wenn du je darüber reden willst, bin ich für dich da, ja?“
Kiara nickte, während Nina sich ihre Müsli-Schale schnappte und an ihren Schreibtisch zurückkehrte. Die Kaffeemaschine war inzwischen zum Stillstand gekommen. Noch immer musterte Kiara die Tür, erneute Gänsehaut über ihre Arme prickelnd. Ihr war, als wäre das braune Holz noch einen Ton dunkler geworden.
Kopfschüttelnd riss sie ihren Blick los und wandte sich ihrer Kaffeetasse zu. Sie war nur zur Hälfte gefüllt. Das Display der Maschine blinkte. Wasser leer, stand dort. Es fühlte sich wie ein Omen für den bevorstehenden Tag an.
*
Kurz nach der Mittagspause rief Kiaras Manager sie in sein Büro. Unter den verurteilenden Blicken ihrer Arbeitskollegen stand sie von ihrem Schreibtisch auf und durchquerte den Raum. Sie klopfte an der Tür, bis ihr Manager sie nach drinnen rief.
Er saß an seinem schweren Mahagonitisch und war über einen Stapel Notizen gebeugt. Als er sie hereinkommen sah, hob er den Kopf und gestikulierte zum freien Stuhl vor dem Schreibtisch. Kiara setzte sich, strich sich ein paar Falten in ihrem Bleistiftrock zurecht.
„Kira“, begrüßte er sie mit einem Lächeln.
„Kiara.“
„Was?“
„Mein Name. Kiara.“
„Kiara. Natürlich, entschuldige.“ Sein Lächeln wirkte ein wenig wie Knetmasse, in die klobige Kinderhände hineingedrückt hatten. „Wie lange arbeitest du jetzt schon für uns?“
„Knapp sechs Monate.“
„Ah ja. Dein Praktikum ist bald zu Ende.“
Sie nickte.
Er wirkte ein wenig verwirrt, als hätte er mehr erwartet, aber schließlich fuhr er fort: „Dir ist bewusst, dass wir danach eine Vollzeitstelle zu vergeben haben, oder? Das wäre dann im Gegensatz zu deiner jetzigen Tätigkeit eine bezahlte Position.“
Wieder nickte Kiara. „Ich wurde informiert, ja.“
„Sicherlich bist du daran interessiert, unserer Firma treu zu bleiben? Immerhin bist du jetzt Teil der Familie.“
Kiara hätte ihm gerne erklärt, dass die Vorstellung, nackt zu den Stoßzeiten durch den Hauptbahnhof zu rennen und dabei lauthals den Liedtext vom Bruttosozialprodukt zu krächzen, hundertmal verlockender gewesen wäre, als auch nur einen weiteren Tag in diesem Gebäude verrotten zu müssen. Doch sie verkniff sich den Kommentar. Stattdessen zog sie bloß die Mundwinkel hoch. Es war ja nicht so, als hätte sie viele andere Optionen. Was sollte sie denn auch tun? Sich ohne Job, ohne Geld und mit einem geschmissenen Studium weiter in ihrem alten Kinderzimmer einbunkern und so tun, als würde die Welt da draußen nicht existieren? Das hatte sie lange genug probiert.
„Wir würden dir gerne eine Stelle in unserer Firma anbieten“, fuhr ihr Manager fort. „Aber dafür brauchen wir noch ein Stück mehr Initiative von dir, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Initiative?“, wiederholte sie.
Er schob einen Papierstapel in ihre Richtung, verblichen und so alt, dass Kiara das Papier riechen konnte.
„Diese Protokolle müssten noch digitalisiert werden“, erklärte er.
Verwirrt blickte Kiara auf den Stapel vor ihr. „Das sind mindestens hundert.“
„Weshalb du bis Freitag Zeit hast“, fügte er an. „Ich mag dich, Kiara, also gebe ich dir einen Tag länger, als wir normalerweise für solche Dinge einplanen.“
Er glaubte wirklich, was er sagte. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen überblickte Kiara den Papierstapel. Das würde sie Stunden kosten. Nie im Leben würde sie vor Freitag fertig werden, wenn sie nicht bereit war, Überstunden zu schieben. Was vermutlich exakt das war, was ihr Manager mit Initiative meinte.
„Nun denn“, sagte er und klopfte auf seine Schenkel, was wohl ihr Hinweis darauf sein sollte, dass das Gespräch nun beendet war. „Wir freuen uns schon riesig darauf, dich in der Familie begrüßen zu dürfen.“ Dabei lastete sein Blick einen Moment länger auf ihr, als wolle er sagen: Vermassle das bloß nicht, ja?
Kiara nahm den Papierstapel entgegen. Er reichte ihr fast bis zum Kinn, ein wackliger Turm aus Dokumenten, die vermutlich seit dreißig Jahren niemand mehr benutzt hatte – und auch in Zukunft niemand mehr nutzen würde. Nur eine weitere, sinnlose Fleißarbeit, um sie in diesem Büro eingesperrt zu halten. Die Idee, sich mit vollem Schwung aus dem Glasfenster des Gebäudes zu stürzen, erschien mit jeder Minute verlockender. Aber weil Kiara das Geld und die Perspektiven wirklich, wirklich gut gebrauchen konnte, nahm sie den Stapel entgegen. „Ich werde mein Bestes geben.“
Es war eine der besseren Lügen, die sie je geäußert hatte.
*
Der Tag verstrich mit der Zähe von halbflüssigem Honig. Als die Sonne sich langsam über den Horizont senkte und sich die ersten ihrer Arbeitskollegen verabschiedeten, war Kiara noch nicht einmal bei der Hälfte des Stapels angekommen. Müde rieb sie sich über die Augen, massierte mit der freien Hand ihren Nacken, der nach dem ganzen Sitzen starr geworden war.
Sie arbeitete weiter, wollte zumindest noch die Hälfte des Stapels erreichen, bevor sie das Büro verließ. Kurz vor acht gab sie es schließlich auf. Ihr Kopf dröhnte und ihr leerer Magen hatte sich auch schon vor einer ganzen Weile gemeldet. Dann würde sie morgen eben ein wenig früher zur Arbeit fahren.
Rasch fuhr sie ihren Computer herunter und stopfte ihre Sachen in ihre Taschen. Als sie aufstand, stach ihr einmal mehr die Tür ins Auge. Jetzt, im halbdunklen Licht des leeren Büros, kam sie ihr noch surrealer vor.
Kurz musterte Kiara sie, dann setzte sie sich in Bewegung. Sie hatte den Ausgang der Abteilung fast erreicht, als sie nochmal zurück sah. Sie zögerte. Hier war niemand, der sie beobachten würde. Vielleicht konnte sie …
Mit schnellen Schritten überwand Kiara die Distanz zwischen ihr und der Tür. Sie schob Claudias Bürostuhl zur Seite, sodass der Weg zur Tür frei war. Das war zweifellos keine Halluzination, aus der Nähe wirkte die Tür durchaus solide. Kiara berührte ihr Holz, das Gefühl ein eisiges Prickeln unter ihren Fingerspitzen auslösend. Ja, definitiv echt.
Aus einem Instinkt heraus griff Kiara nach dem Knauf. Das Messing fühlte sich kühl und glatt an. Sie drehte den Knauf, aber nichts geschah. Natürlich nicht. Was hatte sie auch erwartet? Dass die Tür ihr einen Weg in eine andere Welt eröffnen und sie diesen Ort für immer verlassen könnte?
So etwas geschah nur im Märchen.
2
Wie Maden in einem Nest wuselten die Menschen durch den Hauptbahnhof. Kiara rannte, ihre Tasche bei jedem Schritt unangenehm gegen ihren Oberschenkel schlagend. Obwohl es jetzt schon ein paar Jahre her war, seit sie in die Stadt gezogen waren, war es für Kiara nach wie vor ein Ding der Unmöglichkeit, sich im Labyrinth des Bahnhofs zurechtzufinden. Auf drei Stockwerken und in mehreren Gebäuden erstreckten sich die unzähligen Gleise, die langen Gänge dahin gesäumt mit Restaurants, Läden und Einkaufsnischen. Die Schilder halfen nur wenig dabei, in diesem Wirrwarr den Überblick zu behalten, denn es gab mindestens ein Dutzend verschiedene Ausgänge und etwa dreimal so viele Gleise, deren Nummerierung keinem ersichtlichen System folgte.
Keuchend stolperte Kiara eine Rolltreppe herunter, wäre dabei fast über ihre eigenen Füße gefallen. Sie erreichte den Zug gerade noch, als sich die Doppeltüren mit einem lauten Tü-tü-tü schlossen. Das Innere des Fahrzeugs war so voll, dass ihre Schultern auf beiden Seiten gegen Mitfahrende stießen. Sie drückte ihre Tasche an sich, um wenigstens etwas Abstand zu bekommen, ihre lauten Atemzüge verschluckt vom Geräusch des Zuges, der sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.
Kiara verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, von einem Fuß auf den anderen zu balancieren, um nicht versehentlich einen der Passagiere mitzureißen, bevor die Menge sich endlich etwas lichtete und sie einen Sitzplatz fand. Nach wenigen Stationen verzettelten sich die Ränder der Stadt und die ersten Vororte kamen zum Vorschein.
Als sie ausstieg, war der Zug bereits halb leer geworden. Sie brachte die Strecke vom Bahnhof bis zu ihrer Wohnung zu Fuß zurück. Schon im Treppenhaus des Wohnblocks, den sie ihr Zuhause nannte, schlug ihr der Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch entgegen. Sie kramte den Schlüssel aus ihrer Jackentasche, dann stieß sie die Tür zur Wohnung auf.
Aus der Küche drang Musik, vermischt mit dem Geräusch des Dampfabzugs. Kiara schmiss ihre Tasche in eine Ecke, schlüpfte aus der Jacke und begrüßte ihre Mutter, die am Herd stand.
„Oh, Kiara, gut, dass du endlich hier bist“, sagte diese. Sie tunkte ihren Löffel in die Sauce, die in der Pfanne vor sich hin blubberte, und reichte ihn Kiara. „Was denkst du? Mehr Pfeffer?“
Kiara steckte sich den Löffel in den Mund. „Definitiv mehr Pfeffer.“
„Deckst du schon mal den Tisch im Esszimmer? Die Spaghetti sind fast fertig.“
„Schon dran“, antwortete Kiara, bevor sie der Aufforderung ihrer Mutter nachkam. Als sie das nächste Mal in die Küche zurückkehrte, um die Wasserkaraffe zu füllen, schüttete ihre Mutter gerade die Tomatensauce in den Spaghetti-Topf.
„Wo warst du überhaupt so lange?“, erkundigte sie sich, ohne sich zu Kiara umzudrehen.
„Arbeit.“
„Überstunden? Das passt gar nicht zu dir.“
„Der Chef will, dass ich diese Papiere digitalisiere. Ich glaube, es ist ein Test, um zu sehen, wie sehr ich die Stelle will.“
Das ließ ihre Mutter innehalten. „Er bietet dir die Vollzeitstelle an?“
„Mhm.“
„Oh, Schätzchen, das sind großartige Neuigkeiten! Du wirst doch annehmen, oder?“
„Ich hab mich noch nicht entschieden“, gestand Kiara und drehte den Wasserhahn zu.
„Was soll das heißen, noch nicht entschieden? Siehst du denn nicht, was das für eine Chance ist? Du hättest endlich einen Job.“
„Ja“, murmelte Kiara. „Einen, den ich hasse.“
Sie verschwand im Esszimmer, um die Wasserkaraffe auf den Tisch zu stellen. Ihre Mutter eilte ihr mit dem Spaghetti-Topf hinterher. Demonstrativ ließ sie ihn auf die Tischplatte knallen.
„Das liegt bloß daran, dass du keine gute Einstellung hast“, stellte sie klar. „Wenn du das Ganze mit etwas mehr Elan betrachten würdest, würdest auch du Gefallen an deiner Arbeit finden.“
Mit einem Seufzer ließ sich Kiara in den Stuhl sinken. Sie hätte besser die Klappe gehalten. Jetzt hatte sie unabsichtlich einen der endlosen Monologe ihrer Mutter losgetreten, und dabei war sie noch nicht einmal fünf Minuten zu Hause.
„Und überhaupt“, fuhr ihre Mutter fort. „Man sollte eine solche Chance nicht einfach wegschmeißen. Es ist ja nicht so, als hättest du einen anderen Plan.“
„Ich denke darüber nach, nochmal zu studieren“, antwortete Kiara.
„Damit du nochmal Zeit und Ressourcen verschwenden kannst, nur um dann am Ende doch alles hinzuwerfen? Kommt nicht infrage. Es wird Zeit, dass du endlich mal etwas Vernünftiges machst und dein eigenes Geld verdienst, wie es erwachsene Menschen in deinem Alter eben tun. Du wirst sehen, sich auf etwas festzulegen, wird dir guttun. Du brauchst ein wenig Stabilität in deinem Leben.“ Ihre Mutter klatschte ihr eine Portion Tomatenspaghetti auf den Teller. Als sie den Blick ihrer Tochter bemerkte, seufzte sie. „Ich weiß, die letzten Jahre waren … schwierig. Aber es wird Zeit, dass dein Leben weitergeht – und dass du endlich eine Entscheidung triffst, wie deine Zukunft aussehen soll.“
Instinktiv wanderte Kiaras Blick zum Familienfoto, das an der Wand des Esszimmers hing. Sie, gerade mal dreizehn geworden, mit ihrem breiten Zahnspangen-Grinsen, daneben ihre Mutter, das Gesicht noch nicht von Sorgenfalten gezeichnet. Ein blonder Mann hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt, strahlte in die Kamera. Ihr Vater hatte schon immer das größte Lachen gehabt. Manchmal wünschte sich Kiara, sie hätte es von ihm geerbt, einfach nur, um etwas von ihm zu haben, wenn sie in den Spiegel blickte.
Kiara verbrachte das Abendessen mehrheitlich schweigend. Ihre Mutter erzählte von irgendeinem neuen Hörbuch, das sie vor Kurzem angefangen hatte, und Kiara hörte mit halbem Ohr zu, nickte an den richtigen Stellen und lächelte, wenn sie glaubte, dass Mutter einen Witz machte – eine Performance, die sie in den letzten Jahren perfektioniert hatte. Sie übernahm den Abwasch, während ihre Mutter den Fernseher anschaltete, um zu irgendeinem Liebesdrama auf dem Sofa einzuschlafen. Das Doppelbett in ihrem Zimmer diente seit Jahren nur noch als Staubfänger. Kiara war sich nicht einmal sicher, ob ihre Mutter in all der Zeit je auch nur die Bettwäsche gewechselt hatte.
Kiara wünschte ihr eine gute Nacht, dann zog sie sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Jedes Mal, wenn sie die Schwelle überschritt, war es, als würde sie eine Zeitkapsel betreten. Die Wände waren tapeziert mit verblichenen Bandpostern aus alten Zeitschriften, an der Korkwand neben dem Schreibtisch waren Fotos und Autogramme angepinnt, die sie damals auf Messen gesammelt hatte. An der Schneiderpuppe in der Ecke hing noch ihr altes Sailor-Moon-Cosplay, das sie nie fertig genäht hatte, daneben das Bücherregal, dessen Fantasyschmöcker alle längst mit einer dicken Staubschicht bedeckt waren.
Mit einem Seufzer ließ sie sich rücklings auf das Bett fallen. Von der Decke blickten ihr die perfekt retuschierten Gesichter der Bandmitglieder von Two Ways entgegen. Kiaras vierzehnjähriges Ich hätte vermutlich einen Schreikrampf bekommen, wenn sie gewusst hätte, dass sich die Boy Band vor ein paar Jahren aufgelöst hatte. Was sie wohl über Kiaras jetziges Leben gedacht hätte? War das, wie sie sich das Erwachsenenleben vorgestellt hatte? Eine unbezahlte Praktikantin in einem Großraumbüro, mit einem toten Vater und einem Mount Everest an Therapie-Kosten?
Es dauerte nicht lange, bis Kiara in die Finsternis eines verworrenen Traums hinabgezogen wurde. Sie rannte durch die endlosen, fensterlosen Gänge eines Bürogebäudes, beleuchtet nur von einer flackernden Neonröhre über ihrem Kopf. Doch egal, wie oft sie die Richtung wechselte, egal, um wie viele Ecken sie ging, am Ende des Ganges erwartet sie immer nur eine dunkle Tür mit einem Messingknauf.
*
Sie wurde beobachtet. Von dem Moment an, als sich Kiara am nächsten Morgen beim ersten Weckerklingeln aus dem Bett raffte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich wachsame Augen in ihren Hinterkopf bohrte. Es begleitete sie auf dem Weg ins Badezimmer, beim Zähneputzen, beim Einschalten des Wasserkochers, beim Rennen zum Bahnhof. Ein penetrantes, dumpfes Drücken in ihrem Bewusstsein, ein alter, animalischer Instinkt, der sie davor warnte, dass sie jemand verfolgte. Doch jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Da war bloß die unförmige Masse aus Menschen und Gesichtern hinter ihr.
Das Erste, was ihr auffiel, als sie eine Stunde später das Büro betrat, war, dass der Papierstapel auf ihrem Schreibtisch höher geworden war. Das Zweite war die Tatsache, dass die Tür heute offen stand.
Nein, offen war das falsche Wort. Sie klaffte nicht vor Kiara auf, war lediglich angelehnt, ein kleiner, unscheinbarer Streifen Finsternis, der dahinter hervordrang. Nicht genug, um einen Blick hinter die Tür zu werfen, aber mehr als genug, um Kiara innehalten zu lassen.
Ein euphorisches Guten Morgen aus einer Ecke des Raumes riss sie aus ihrer Starre. Sie schüttelte sich, steuerte mit schnellen Schritten auf ihren Schreibtisch zu und drückte den Einschaltknopf des Computers unter dem Tisch mit der Schuhspitze. Während sie ihre Sachen auspackte, versuchte sie, die seltsame Tür auszublenden. Sie war ein konstanter Schatten in Kiaras Augenwinkel, ein dunkler Fleck an der sonst so weißen Bürowand. Kiara bildete sich ein, dass ihre Form sich leicht bewegte, als müsse sie sich alle paar Sekunden neu zusammensetzen. Doch als sie blinzelte, war der Effekt bereits verschwunden.
Auch wenn es gegen die Büro-Ordnung verstieß, stopfte sich Kiara ihre Kopfhörer in die Ohren und drehte die Musik auf volle Lautstärke. Wenn sie die Tür schon nicht ausblenden konnte, dann konnte sie sich vielleicht auf etwas Anderes konzentrieren. Sie schnappte sich das oberste Blatt auf dem Papierstapel und begann mit der Arbeit.
Sie kam gut voran. Bis zur Mittagspause hatte sie die Tür fast vergessen. Zumindest, bis sie die Stimmen hörte.
Erst hielt sie sie für einen Teil des Liedes, das gerade durch ihren Gehörgang rauschte. Doch als es endete und das Flüstern weiter anhielt, wurde Kiara klar, dass das Geräusch von außen kam. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren, lauschte in die Stille des Büros hinein. Das Klacken von eifrigen Fingern über Tastaturen, das Ticken der Uhr an der Wand, das Schlürfen von Kaffee. Dazwischen wisperten die Stimmen, so leise, dass Kiara keine einzelnen Worte ausmachen konnte, aber dennoch laut genug, dass sie es nicht ignorieren konnte.
Sie legte die Ohrenstöpsel auf den Schreibtisch. Ihr Blick fiel auf die Tür. Sie glaubte, dass der Spalt in den letzten Stunden etwas größer geworden war. Die Stimmen kamen von irgendwo dahinter.
Für einen Moment zog Kiara in Erwägung, sich der Tür erneut zu nähern. Claudias Schreibtisch war verlassen, die Arbeitskollegin vermutlich immer noch in der Mittagspause. Es wäre ein Leichtes gewesen, kurz zu ihrem Platz hinüberzugehen und nachzusehen.
Noch bevor Kiara ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, ging die Tür zur Küche auf und Claudia stolzierte heraus. Sie näherte sich ihrem Schreibtisch, ein leises Lied vor sich hin summend. Aus einem unerklärlichen Grund setzte sich plötzlich Panik in Kiara.
Geh nicht näher ran.
Sie hatte keine Ahnung, woher dieser Gedanke kam, aber er setzte sich in ihr fest wie Kaugummi auf einer Bordsteinkante. Alles in ihr schrie sie an aufzustehen, Claudia davon abzuhalten, auch nur einen Schritt näher an die Tür heranzugehen. Stattdessen blieb sie wie angeklebt auf ihrem Bürostuhl sitzen, konnte nicht anders, als einfach zu starren.
Claudia erreichte ihren Schreibtisch. Schwungvoll ließ sie sich auf ihrem Stuhl nieder, schien die Tür in ihrem Rücken nicht wahrzunehmen. Kiaras Herz setzte einen Schlag aus. Claudia ließ ihre Hände mit den lackierten roten Fingernägeln einmal knacken, dann stürzte sie sich mit vollem Elan auf ihre Arbeit.
Nichts geschah. Kiara war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Die Tür verharrte an Ort und Stelle, während Claudia sich gerade gedankenverloren einen Drops in den Mund schob.
Mit einer seltsamen Erleichterung in der Brust wandte sich Kiara wieder ihrem Papierstapel zu. Erst, als sie sich die Kopfhörer erneut in die Ohren schob, realisierte sie, dass das Flüstern der Stimmen verstummt war.
3
Der Nachmittag verfloss und der Papierstapel auf Kiaras Schreibtisch schien nicht kleiner zu werden – im Gegenteil. Sie arbeitete sich von Dokument zu Dokument durch, doch als ihre Arbeitskollegen irgendwann in den Feierabend gingen und Kiaras Stapel immer noch zu einem Drittel so hoch war wie zu Beginn, ahnte sie, dass es eine lange Nacht werden würde.
Sie betrat gerade die Küche, um sich eine weitere Tasse Kaffee zu holen, als ihr Nina entgegenkam.
„Oh. Überstunden?“, fragte sie in derselben überschwänglichen Tonlage wie immer. „Vergiss nicht, die Lichter zu löschen, wenn du gehst. Die Tür sollte automatisch schließen, aber check es am besten noch einmal, nur zur Sicherheit.“
Verwirrt starrte Kiara Nina an. „Moment mal. Du bleibst nicht hier?“
Nina machte immer Überstunden. Sie war die erste Person, die das Büro betrat, und die letzte, die es verließ.
„Nicht heute, sorry.“ Sie lächelte. Es klang nicht wirklich nach einer Entschuldigung. „Aber das kann ich nicht ausfallen lassen.“ Sie streckte Kiara ihre Hand entgegen, an der ein glänzender, eleganter Ring steckte. „Justus hat mir gestern einen Antrag gemacht und wir wollen heute darauf anstoßen.“
„Du bist verlobt?!“ Kiara hatte nicht einmal gewusst, dass Nina einen Freund hatte. Aber sie hatte auch nie gefragt.
Nina entwich ein aufgeregtes Quietschen. „Ich kann es immer noch nicht glauben! Ich hätte nie für möglich gehalten, jemanden wie ihn zu finden. Er ist so gutaussehend und nett und geduldig und … Er räumt sogar manchmal die Spülmaschine aus, selbst wenn ich ihn nicht darum bitte! Ist das nicht der Wahnsinn?“
„Ein echter Traummann“, kommentierte Kiara.
„Nicht wahr?!“ Nina hüpfte beinahe vor Freude auf und ab, dann fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. „Oh. Ich muss los.“ Sie schnappte sich ihre Tasche. „Bleib nicht zu lange“, rief sie Kiara zu, als sie bereits aus der Küche gerauscht war.
Wenige Sekunden später fiel die Tür hinter ihr zu. Kiara griff nach ihrer Kaffeetasse und verließ den Raum mit einem Seufzer.
Das Büro lag still und verlassen vor ihr. Hinter den bodentiefen Fensterscheiben des Gebäudes hatte sich bereits die Schwärze der Nacht ausgebreitet. Die meisten Lampen im Büro waren ebenfalls erloschen, nur jene im Flur und die über Kiaras Schreibtisch brannten noch. Schatten hatten die Schreibtische und Computer überzogen, nagten an den Farben, die im flackernden Licht langsam starben. Es war so still, dass Kiara das entfernte elektrische Donnern des Fahrstuhls im Flur hören konnte.
Auf einmal wünschte sie sich, Nina wäre geblieben.
Diesen Gedanken abschüttelnd, kehrte sie an ihren Schreibtisch zurück. Die Tür schien sie bei jedem ihrer Schritte zu verfolgen und einmal mehr wurde Kiara das ungute Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Sie stellte die Kaffeetasse ab und setzte sich. Die Räder des Bürostuhls quietschten leise.
Sie schnappte sich das nächste Dokument vom Stapel, begann damit, den Inhalt in den Computer zu tippen. Die Augen der Tür lasteten schwer auf ihr, folgten ihr bei jeder Bewegung ihrer Finger. Ein paar Minuten versuchte sie sie auszublenden, dann hielt sie es nicht mehr länger aus. Mit Schwung fuhr sie auf dem Stuhl in Richtung der Tür herum.
„Was zur Hölle willst du eigentlich von mir?!“
Die Tür, welche weder über einen Mund noch Ohren verfügte, gab, zu Kiaras größter Überraschung, keine Antwort.
Ihr entglitt ein trockenes Lachen. Sie presste sich die Handballen gegen die Lider und atmete tief durch. Was machte sie hier eigentlich? Es war bloß eine verdammte Tür, und sie war eine erwachsene Person. Mehrheitlich zumindest. Es gab keinen guten Grund, weshalb ihr Puls gerade raste, als würde sie eine True-Crime-Doku im Dunkeln schauen. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass sie ihr Leben endlich in den Griff bekam.
Langsam ließ Kiara die Hände zurück auf die Schreibtischplatte sinken. Ihre Finger zitterten. Großartig. Sie fürchtete sich gerade ernsthaft vor einer verfluchten Tür.
Gott, sie hoffte, dass das kein Anzeichen dafür war, dass sie wieder in eine ihrer Episoden hineinrutschte. Letztes Mal war sie wochenlang kaum aus dem Bett gekommen. Allein bei der Erinnerung an die Gedanken, die sich wie Schnäbel von Vögeln in ihr Gehirn gepickt hatten, erschauderte sie. Möglicherweise war es dieses Mal sogar mehr als das. Möglicherweise verlor sie nun ein für alle Mal ihren Verstand.
Sie hätte die Therapie nie abbrechen sollen.
Weil ihr nichts Besseres einfiel, stand Kiara auf und steuerte die Toilette an. Sie befand sich im hinteren Teil des Büros, weit weg von der Tür, und noch viel wichtiger: Sie war abschließbar. Aus irgendeinem Grund hielt Kiara das für äußerst relevant.
Sie hatte die Toilette schon fast erreicht, als sie das Knarzen hörte.
Kiara Brocks war nicht von gestern. In den neunzehn Jahren ihres Lebens hatte sie genug Horrorfilme geschaut, um zu wissen, dass es niemals eine gute Idee war, sich umzudrehen. Doch sie hatte unterschätzt, wie viel schlimmer der Gedanke war, es nicht zu tun.
Die Tür stand offen.
Nicht nur einen Spaltbreit, nicht nur angelehnt, sondern offen, ihr Inneres der Welt entblößt. Kiara war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Einen Korridor wie in ihrem Albtraum vielleicht. Den Zugang zu einer anderen Abteilung, wie sie anfangs vermutet hatte. Stattdessen war alles, was ihr entgegenblickte, endlose Schwärze. Die Tür führte ins Nichts, und diese Tatsache allein war genug, um Kiaras Gehirn für einen Moment kurzschließen zu lassen.
Was danach geschah, würde sie später nicht mehr wirklich in Worte fassen können.
In einem Moment starrte Kiara noch in die Finsternis hinein, die sich hinter der Tür erstreckte, im nächsten Moment schoss auch schon etwas Langes daraus hervor und riss sie von den Füßen. Sie knallte ungebremst mit dem Hinterkopf auf den Teppichboden, helle Flecken vor ihren Augen explodierend. Ihr Körper wurde grob rückwärts geschleift. Etwas Schweres, Schleimiges hatte sich um ihren Knöchel geschlungen, zerrte sie durch das Büro, während ihre Knie und Ellbogen mit Ecken und Stühlen kollidierten. Instinktiv drehte sie sich auf den Bauch, versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten, aber ihre Fingernägel schabten vergebens über den Boden.
Sie bekam ein Tischbein zu fassen, umklammerte es mit den Fingern, doch der Zug auf ihre Beine ließ nicht nach, wurde lediglich ein bisschen schwächer. Der Schreibtisch schob sich mit einem hohen, kratzenden Geräusch vorwärts und Kiara klammerte sich an ihm fest wie eine Ertrinkende an einem Stück Schwemmholz.
Jetzt, wo die Welt nicht mehr im Schnelldurchlauf an ihr vorbeizog, realisierte sie endlich, was an ihr zog. Es war ein langes, schwarzes Etwas, das aus der Finsternis der Tür herausgeschossen war, eine Art Tentakel oder Blutegel, aber ohne Augen oder Mund. Er wanderte höher, von ihrem Knöchel bis hin zu ihrem Knie, ihr Griff nun so eng, dass sie das Blut unter ihrer Haut pochen spürte. Kiara keuchte auf, als der Tentakel gewaltsam an ihr riss.
Neben ihr stürzte ein Stifthalter zu Boden und ergoss sich auf den Teppich. Kugelschreiber, Post-its, Kekskrümel. Kurz ging Kiara im Kopf ihre Möglichkeiten durch, realisierte, dass sie keine hatte, und löste dann eine Hand vom Tischbein, an dem sie sich festgeklammert hatte.
Kurz war sie sich sicher, dass sie den Halt verlieren würde. Sie schrie auf, als ein schmerzhaftes Ziehen von ihren Zehen bis in ihre Zähne jagte. Ihr Körper fühlte sich an wie ein Gummiband, das langsam auseinandergerissen wurde. Sie biss den Kiefer aufeinander, griff mit der nun befreiten Hand nach einem Kugelschreiber, ein Werbegeschenk von irgendeinem Büropartner, und rammte ihn mit voller Wucht in das Fleisch des Tentakels.
Schwarzer Schleim spritzte aus der Wunde hervor. Ein Brüllen jagte durch das Innere des Büros, das Geräusch so donnernd, dass die Fensterscheiben zu zittern begannen. Kiara ließ den Kugelschreiber erneut niederfahren, und noch einmal, und noch einmal, bevor sich der Griff um ihr Bein plötzlich schlagartig lockerte und sich der Tentakel zurückzog.
Sie wartete nicht ab, sondern kroch schnell unter einen Schreibtisch. Sie lehnte gegen die Seite des Tisches, die Beine eng an ihren Körper gezogen, ihr Herzschlag rasend. Dort, wo der Tentakel ihren Knöchel umschlungen hatte, breitete sich dumpfer Schmerz aus. Ihre Fingernägel waren abgebrochen, bluteten an einigen Stellen.
Kiaras Gedanken rasten noch lauter als das Pochen in ihrer Brust. Kalt sickerte der Schweiß ihren Nacken hinab, sog sich im Kragen ihres Hemds fest. Das Brüllen war verstummt. Irgendwo neben sich konnte sie ein feuchtes Schlittern hören.
Die gute Nachricht war: Das war keine ihrer Episoden.
Die schlechte Nachricht war: Sie war gerade allein im Büro mit einem gottverdammten Monster.
Sie musste hier weg. Ihr einziger Weg nach draußen führte durch die Glastür, welche den Gang vor den Fahrstühlen mit dem Büro verband. Wenn sie sie durchschritt, würde sie sich automatisch hinter ihr verschließen, genau wie Nina gesagt hatte. Aber um dorthin zu kommen, musste Kiara erst einmal zum anderen Ende des Büros gelangen.
Für ein paar Sekunden verharrte sie in ihrer Position, wünschte sich, sie hätte einfach warten können, bis dieser Albtraum vorbei war. Doch gleichzeitig war ihr klar, dass ihre Chancen, das hier irgendwie zu überleben – was auch immer das hier war –, mit jeder Minute schwanden. Sie musste etwas unternehmen.
Kiara nahm einen tiefen Atemzug und linste um die Ecke des Schreibtisches. Der Tentakel hatte sich fast wieder bis zur Tür zurückgezogen. Gerade schlängelte er sich zwischen den Tischbeinen von Claudias Arbeitsplatz durch. Das war womöglich die einzige Gelegenheit, die sie bekommen würde.
Ohne weiter darüber nachzudenken, hechtete Kiara unter dem Schreibtisch hervor und begann zu rennen. Sie sah nicht zum Tentakel zurück, fokussierte sich bloß auf die Glastür am anderen Ende des Büros – ihr rettender Ausgang. Hinter sich hörte sie ein Brüllen, gefolgt von einem nassen Geräusch. Sie trieb sich weiter an, sprintete zwischen zwei Schreibtischen hindurch und sprang über einen umgestürzten Stuhl. Gott, sie wünschte sich, sie hätte sich heute Morgen für eine Hose statt eines Rocks entschieden.
Da! Die Glastür. Kiara ergriff die Klinke schon fast. Ein paar Meter noch. Sie konnte es schaffen, sie konnte …
Etwas Schweres traf sie am Rücken, brachte sie ins Straucheln. Der Tentakel schlang sich um ihren Bauch, riss sie in die Luft, während sie in seinem Griff um sich schlug wie ein hilfloses Insekt in den Klauen einer Gottesanbeterin. Kiara schrie. Der Tentakel hob sie hoch, dann schleuderte er sie mit voller Wucht gegen einen der Schreibtische.
4
Kiaras Welt zersprang – wortwörtlich. Das Holz der Schreibtischplatte gab nach, als sie mit voller Wucht darauf landete, Splitter und Papierfetzen und Stifte in alle Richtungen fliegend. Sie schirmte ihr Gesicht mit den Armen ab, fiel in einen Haufen von Ordnern am Boden, wo sie liegen blieb.
Sie konnte nicht mehr atmen.
Ihr Brustkorb hob und senkte sich gewaltsam, aber kein erlösender Luftzug drang in ihre Lungen. Ihre Sicht war ein Feuerwerk aus Lichtern, ihr Körper eine Leinwand aus Schmerz. Sie war nicht einmal in der Lage, zu schreien.
Durch einen nassen Schleier hindurch nahm sie wahr, wie sich der Tentakel über ihr aufbaute. Alles in ihr schrie sie an, sich zu bewegen, wegzurennen, doch sie konnte keinen einzigen Finger krümmen. Ihr entwich ein leises Geräusch, das wohl mit mehr Luft in ihrer Lunge ein Schrei gewesen wäre.
Der Tentakel schoss nach vorne. Im selben Moment durchschnitt etwas die Luft des Büros, bohrte sich so tief ins Fleisch des Tentakels, dass ein Teil davon auf der anderen Seite wieder hervortrat. Ein Brüllen, dieses Mal laut genug, um Risse in einem der Fenster entstehen zu lassen. Ein weiterer Schuss, ein weiterer Metallpfeil, der den Tentakel traf. Kiara drehte den Kopf.
Ein Mann war beim Eingang des Büros aufgetaucht, zurückgegelte schwarze Haare, die am Ansatz bereits ergrauten, ein Anzug mit Krawatte, in der freien Hand eine Aktentasche. Auf den ersten Blick nur ein weiterer Mitarbeiter, der in einer anderen Abteilung Überstunden geschoben hatte. Zumindest, bis Kiara den goldenen Kreis entdeckte, der vor dem Mann in der Luft schwebte.
„Entschuldige die Verspätung“, wandte er sich an Kiara. „Ich musste auf den Fahrstuhl warten.“
Endlich gelang es ihr, wieder Luft in ihren Körper zu zwängen. „Es gibt … eine Treppe“, krächzte sie.
Der Mann hielt inne. „Ah“, sagte er dann, ein fast schon entschuldigender Ausdruck auf seinem Gesicht. Der leuchtende Kreis vor ihm erlosch. Er ließ die Schultern rollen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Tentakel schenkte. „Du hast hier ganz schön Chaos angerichtet, was? Böser Junge.“
Ein neues Brüllen, das das Innere des Raumes erschütterte. Der Tentakel schoss nach vorne, sein feuchter Körper durchbohrt von mehreren Pfeilen, mit denen der Unbekannte ihn getroffen hatte. Dieser hechtete aus dem Weg, ließ die Aktentasche in seiner Hand dabei keinen Moment los. Der Tentakel kollidierte mit der Glastür, eine Spur aus Schleim hinterlassend.
Der Fremde ballte seine freie Hand zur Faust und drückte sie dann gegen die Tischplatte des Schreibtischs neben ihm. In schnellen Bewegungen kratzte er mit dem Ring, den er an einem seiner Finger trug, über das Holz. Etwas Helles leuchtete auf. Im nächsten Moment ging ein seltsames Wabern durch den Tisch. Der Tentakel raste auf den Fremden zu. Die Tischplatte bog sich durch, verschmolz zu einer neuen Form, bäumte sich auf wie eine Welle am Strand.
Der Tentakel prallte mit einem nassen Geräusch gegen den improvisierten Schild und sank zurück auf den Boden. Der Unbekannte hob seine Hand erneut. Dieses Mal kratzte er nicht über die Tischplatte, sondern direkt in die Luft. Goldene Fäden glühten vor ihm auf, verbanden sich zu einem Kreis mit verschiedenen Ringen und Symbolen im Inneren. Als der Kreis sich schloss, schlug der Fremde einmal mit der Faust dagegen. Ein Ruck ging durch die Tische rund um Claudias Platz. Es war, als würden sie ihre steife Form plötzlich abwerfen, flüssig werden wie Eis unter der Hitze der Sonne. Sie rauschten aufeinander zu, verschmolzen miteinander, ein unförmiges Wirrwarr aus Beinen und Holzplatten und Schrauben. Der Unbekannte legte die Stirn in Falten, sichtlich konzentriert. Er machte eine schnelle Handbewegung. Die Tische, die miteinander verschmolzen waren, wuchsen allmählich zu einer festen Mauer an. Der Tentakel zog sich zurück in Richtung der Tür, aber er war zu langsam. Die Tisch-Mauer wuchs, erreichte mit einem dumpfen Donnern die Decke und trennte den Tentakel glatt ab. Ein Teil fiel zu Boden, der andere verschwand in der Tür, die soeben hinter dem Schutzwall abgeschottet worden war.
Der Unbekannte ließ keuchend die Hand sinken. Schweißperlen waren auf seiner Stirn aufgetaucht, glänzten im Licht der Leuchtstoffröhren. Die Wand, die er zwischen ihnen und der Tür aufgebaut hatte, reichte von einer Seite des Büros bis zur Fensterfront. Sie war ein seltsames Gebilde aus halb verschmolzenen Holzplatten und vereinzelten metallenen Tischbeinen, die daraus hervorlugten. Eine Konstruktion, die Kiara auf einer Ausstellung für moderne Kunst erwartet hätte, aber auf keinen Fall hier, und schon gar nicht erschaffen durch einen Mann, der die einzelnen Tische scheinbar mit der Kraft seiner Gedanken zusammengeführt hatte.
Ein Hustenanfall schüttelte Kiara und sie drückte sich stöhnend in eine sitzende Position hoch. Der Fremde, der für einen Augenblick vergessen zu haben schien, dass sie existierte, drehte den Kopf in ihre Richtung. Fluchend eilte er zu ihr hinüber, legte die Aktentasche neben sich ab.
„Oh, das sieht nicht gut aus“, murmelte er.
Ein weiterer Hustenanfall schüttelte Kiara. Tropfen von Blut sammelten sich auf ihrem Hemd. Sie hatte mit ihrer Mutter genug Staffeln von Herzflimmern im Krankenhaus: Die Anatomie von Dr. Schwarz gesehen, um zu wissen, dass das niemals ein gutes Zeichen war.
„Halt am besten still“, befahl der Fremde. Er hielt eine Hand über ihren Bauch. Wieder kratzte er in der Luft. Jetzt, aus der Nähe, konnte Kiara erkennen, dass der Ring an seiner Hand in einer pyramidenförmigen Spitze endete. Kaum hatten sich die goldenen Fäden zu einem Kreis verbunden, spürte sie Hitze in sich aufkommen. Sie schnappte nach Luft, das Gefühl an der Grenze zu schmerzhaft. Doch es ließ so schnell nach, wie es gekommen war. Kiara sank zurück gegen die Wand, atmete aus.
„Das sollte die inneren Blutungen fürs Erste gestoppt haben“, erklärte der Fremde. Er strahlte über beide Ohren. „Und ich habe nicht einmal versehentlich eine Arterie platzen lassen.“
„Das war eine Möglichkeit?!“
„Keine Sorge. Das ist mir lediglich ein einziges Mal passiert. Und ich hab die Person danach sogar eigenhändig reanimiert“, verkündete er mit hörbarem Stolz. „Es ist wichtig, sich stets auf das Positive zu fokussieren, weißt du?“
Er sprach mit einem seltsamen Akzent, den Kiara nicht zuordnen konnte. Bei der Art, wie er seine Rs rollte, dachte sie zuerst an eine osteuropäische Sprache, aber nein, dafür war sein Ch zu kehlig. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig, vielleicht ein wenig älter, die kleinen Falten in seinem Gesicht halb versteckt unter den feinen Narben, die seine Haut zierten. Er hatte klare Augen, umrahmt von dunklen Ringen, die Geschichten von unzähligen schlaflosen Nächten erzählten.
Der Mann schien Kiaras Schweigen als Einladung anzusehen. „Draven“, stellte er sich vor. „Spezialist für Übernatürliches, Ungewöhnliches und Unerwartetes. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Es dauerte einen Wimpernschlag, bis es ihr gelang, sich durch die Watte in ihrem Kopf zu kämmen. „Kiara“, murmelte sie. Sein Händedruck war kräftig, aber nicht unangenehm. „Kiara Brocks.“ Und dann, weil es ihr deutlich wichtiger erschien als das Austauschen von Formalitäten: „Was zur Hölle ist hinter dieser Tür?!“
Draven sah zu der Tisch-Wand hinüber, welche die Tür erfolgreich von ihnen abgeschottet hatte. „Ah. Ja, das ist eine überaus verzwickte Angelegenheit.“ Eine tiefe Falte erschien zwischen seinen Brauen, als er seinen Blick wieder auf Kiara legte. „Du kannst die Tür sehen?“
„Ich habe ein Paar funktionierender Augen, ja“, bestätigte sie. „Diese Tür war gestern einfach … da. Ich habe versucht, sie zu öffnen, aber …“
„Du hast versucht, sie zu öffnen?!“
„Hat nichts genützt. Aber als ich heute Morgen im Büro ankam, war sie nur noch angelehnt und dann … kam auf einmal dieses Ding daraus hervor.“ Sie gestikulierte in die Richtung des abgetrennten Tentakels, der nach wie vor am Boden lag. Er zuckte immer noch und schwarzer Schleim sickerte in den Teppich unter ihm. Kiara erschauderte.
„Du hattest Glück“, meinte Draven. „Mir scheint, als wäre bisher nur ein Teil des Daemons in der Lage gewesen, auf diese Seite durchzudringen.“ Draven gestikulierte in Richtung von Claudias Schreibtisch. „Die Tür, die du gesehen hast? Sie stellt etwas dar, was ihr als Portal bezeichnen würdet. Ein Durchgang von einer Welt zu einer anderen. Dieser Daemon hat versucht, sie zu nutzen, um in diese Welt überzutreten. Nur ist mir nicht klar, ob er sie selbst erschaffen hat, oder ob er bloß eine vorhandene Tür als Transportmittel genutzt hat.“
Kiara starrte ihn an. „Andere Welten“, wiederholte sie.
„Mhm.“
„Portale.“
„Richtig.“
„Und Daemonen.“
„Ganz genau.“
„Jetzt verstehe ich endlich“, sagte Kiara.
„Ah, höchst erfreulich! Normalerweise dauert dieser Prozess deutlich länger. Du bist eine schnelle Lernerin, wie mir scheint.“
„Sie sind verrückt. Völlig durchgeknallt.“
„Wenn du andeuten willst, dass ich meinen Verstand verloren haben sollte … nun, der eine oder andere würde dir vermutlich in der Hinsicht recht geben.“ Er lachte leise. „Aber ich würde niemals lügen, wenn es um solche Dinge geht.“
„Was Sie gerade gesagt haben, ist wahnsinnig. So etwas wie andere Welten oder Daemonen existieren höchstens in Büchern, nicht in der Realität.“
„Ich schätze, in dem Fall müssen es wohl ein paar einfache Buchseiten gewesen sein, die dich gerade durch das halbe Büro geschleudert haben.“
Kiara presste zwei Finger gegen ihre Schläfe, massierte den aufkommenden Kopfschmerz weg. Kurz fiel ihr Blick auf die Wand, die Draven erschaffen hatte. „Was passiert jetzt?“
„Jetzt“, antwortete Draven mit einer Überschwänglichkeit, die der Situation keineswegs angebracht war, „hole ich erst einmal Verstärkung.“ Er zog ein Smartphone aus der Tasche seines Anzugs und begann damit, eine Nummer einzutippen. „Diese Wand wird nicht ewig halten. Wir müssen die Tür schließen, bevor der Daemon noch mehr Schaden anrichten kann.“
„Natürlich. Wenn es nur das ist.“
„Sorge dich nicht. Ich habe eine gute Freundin, die uns helfen kann. Sie ist eine Expertin, wenn es um solche … unglücklichen Situationen geht.“
Erst jetzt wurde Kiara der Zustand des Büros bewusst. Die Schreibtische, die nicht von Draven zu einer provisorischen Wand fusioniert worden waren, lagen im Raum zerstreut und waren teilweise zerstört. Der Boden war übersät mit Papierfetzen, Stiften und den abgebrochenen Rollen von Stuhlbeinen, das Fenster zersprungen. Etwas Schweres setzte sich in Kiara. Wie würde sie das morgen alles erklären? Und noch viel dringender: Welche Ausrede konnte sie ihrer Mutter auftischen, wenn diese erfuhr, dass Kiara sich gerade gefühlt alle Knochen im Körper gebrochen hatte?
Draven drückte sich das Handy gegen das Ohr, eine Hand immer noch auf der Aktentasche lastend. Seit er angekommen war, hatte er das Ding keine Sekunde aus den Augen gelassen.
„Gina, meine Liebste“, säuselte er in sein Smartphone, als am anderen Ende jemand dran ging. „Hm? Nein, das würde mir nie im Traum einfallen. Du weißt doch, wie gerne ich mich mit dir unterhalte.“ Eine Pause. „Natürlich. Ich bräuchte nur einen klitzekleinen Gefallen von dir. Mhm. Ein Daemon, ja.“ Selbst durch das Handy hindurch konnte Kiara hören, wie die Stimme seiner Gesprächspartnerin plötzlich laut wurde. Für eine Minute sagte Draven gar nichts mehr, ließ den Wortschwall stumm über sich ergehen. „Ich wollte erst sichergehen, bevor ich dich extra deswegen herhole. Mhm. Mhm, mhm. Deshalb rufe ich ja jetzt an. Zivilisten, die zu Schaden gekommen sind?“ Er sah zu Kiara hinüber und zwinkerte ihr zu. „Nur ein paar Kratzer.“ Ein weiterer empörter Wortschwall. „Mhm, verstanden. Bis dann.“
Er legte auf.
„Freundin, ja?“, hakte Kiara nach.
„Wir haben eine komplizierte Beziehung.“ Draven kam aus seiner kauernden Position hoch und klopfte sich ein paar Spitzer-Schnipsel von der Anzughose. „Nun denn. Bringen wir dich erst einmal in Sicherheit. Kannst du stehen?“
Das war eine gute Frage. Kiara nahm einen tiefen Atemzug, bevor sie es wagte, ihre Knie zu beugen. Ihr Rücken protestierte sofort und sie unterdrückte einen Aufschrei. Draven streckte ihr die Hand entgegen.
„Langsam“, sagte er, als hätte sie das nicht längst selbst begriffen.
Sie ergriff seine Hand und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Ihre Knie waren nach wie vor ein wenig wacklig, aber wenn sie sich an der Wand abstützte, konnte sie zumindest stehen.
„Siehst du?“, meinte Draven. „Schon fast wie ne –“
Der Rest seiner Worte ging in einem Knall unter, der durch das Büro hallte, als die Wand neben ihnen plötzlich gewaltsam auseinanderbrach.
5
Draven wurde von etwas am Kopf getroffen und von der Wucht der Explosion zurückgeschleudert. Er prallte gegen die Fensterfront auf der anderen Seite des Büros, stöhnte leise auf, bevor er bewusstlos zusammensackte. Seine Aktentasche fiel ihm aus der Hand, rutschte irgendwo unter einen Schreibtisch.
Kiara keuchte auf. Die Wand war zerstört, in Stücke gerissen von der Kraft der Tentakel, die gerade alle gleichzeitig aus der Finsternis der Tür hervorschossen. Sie schlitterten durch das Büro, zerschlugen Schreibtische und Stühle und bahnten sich ihren Weg blitzschnell in Dravens Richtung. Das Brüllen war ohrenbetäubend.
Die Tür schien größer geworden zu sein, auch wenn Kiara wusste, dass das völlig unmöglich hätte sein sollen. Doch die Grenzen zwischen möglich und unmöglich waren in den letzten Minuten sowieso nicht mehr klar voneinander abtrennbar. Durch das Pochen in ihrem Kopf erinnerte sich Kiara an Dravens Worte.
Wir müssen die Tür schließen, bevor der Daemon noch mehr Schaden anrichten kann.
Kiara fasste die Tür ins Auge. Sie stand weit offen, Finsternis herausquellend wie Wasser aus einem Brunnen. Die Tentakel waren nach wie vor mit Draven beschäftigt, krochen um seinen regungslosen Körper herum, schlangen sich erst um seine Beine, dann die Arme.
Das war ihre Chance.
Kiara rannte los, ignorierte den stechenden Schmerz, der dabei in ihren Rücken und ihre Beine schnitt. Eine Hand immer noch um ihren Bauch geschlungen, zwang sie sich vorwärts, die Zähne fest aufeinandergepresst. Die Tentakel hatten inzwischen Dravens Körper fast vollständig umschlungen. Etwas ploppte in ihren Ohren auf – wie das Gefühl von Flüssigkeit, die gerade aus ihrem Gehörgang entwichen war. Im selben Moment begannen die Lampen im Büro wie wild zu flackern, die Luft schwer und von einem seltsamen, metallenen Geschmack angefüllt.
Sie erreichte die Tür. Aus der Nähe konnte sie das Flüstern und Wispern von unzähligen Stimmen hören, auch wenn sie keinerlei Worte ausmachen konnte. Für einen Moment starrte Kiara in die Finsternis, die sich hinter der Tür erstreckte, verlor sich in ihrer endlosen Schwärze. Dann riss sie sich aus ihrer Trance los. Sie ergriff den Türknauf, eisig kalt unter ihren Fingern, und drückte sich mit aller Kraft gegen das Holz.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kiara spürte, dass Bewegung in die Tür kam. Millimeter für Millimeter schob sie sie zu. Als würden sie von ihrem Vorhaben ahnen, ging plötzlich ein Zucken durch die Tentakel. Sie ließen von Draven ab, schossen zurück in Richtung der Tür. Panik schwappte durch Kiara hindurch. Sie trat einen Schritt zurück, bevor sie sich mit der Schulter gegen die Tür warf. Ein Ruck, ein Zentimeter mehr, die sie sich schloss. Die Tentakel schlitterten durch das Büro. Kiara keuchte, helle Flecken vor ihren Augen aufplatzend. Sie holte Anlauf, dann warf sie sich mit voller Wucht gegen die Tür. Ein Knall, ein Gebrüll, gefolgt von einem nassen Geräusch und einem Windstoß, der durch das Büro fegte. Danach wurde es still.
Schwer atmend lehnte sich Kiara gegen die Tür. Vor ihr am Boden wanden sich die abgetrennten Spitzen der Tentakel. Die Tür war ins Schloss gefallen, die Finsternis verschwunden. Nur die Lichter flackerten nach wie vor, der Geschmack in der Luft erdrückend und warm.
„Verdammte Scheiße“, fluchte Kiara. Ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass Schimpfworte in keiner Situation je angebracht waren, aber ihre Mutter war nicht hier und, so dachte sich Kiara, wenn Schimpfworte nicht genau für Situationen wie diese erfunden worden waren, dann wusste sie auch nicht.
Sie begann zu lachen. Jedes Mal, wenn sich ihr Bauch zusammenzog, schoss Schmerz durch ihre Muskeln, doch sie konnte sich nicht bremsen. In der Stille, die sich über das Büro gelegt hatte, setzte sich die Erleichterung wie Zement in ihren Knochen. Sie sank an der Tür entlang zu Boden.
Die Glastür zum Büro ging auf. Kiara hob den Kopf und erstarrte. Die Frau, die soeben den Raum betreten hatte, sah aus, als wäre sie gerade aus einem Hollywood-Film der 50er-Jahre gestolpert, personifizierte Eleganz und klassische Schönheit. Ihre blonden Haare waren zu einem welligen Bob gestylt, ihre Lippen rot und voll. Sie trug ein enges Bleistiftkleid mit einem braunen Gürtel, dazu beige Nylon-Strümpfe und schwarze Handschuhe. Beim Eintreten zog sie eine Braue hoch und ließ ihren Blick aufmerksam durch den Raum schweifen.
„Weckt diesen Idioten auf“, kommandierte sie, nachdem sie den bewusstlosen Draven zwischen ein paar zerstörten Stuhlbeinen entdeckt hatte. „Und findet die Aktentasche. Sofort.“
Erst jetzt bemerkte Kiara die beiden Muskelprotze, die der Frau gefolgt waren. Einer von ihnen war eine Mensch gewordene Bulldogge, mit einer Glatze und einem konstanten Stirnrunzeln, als wäre er gerade von einem besonders penetranten Promoter belästigt worden. Muskelprotz Nummer Zwei war ein Schwarzer Mann mit Baumstämmen als Oberarme, einem kantigen Kiefer und einer zerschlissenen Jeansjacke. Bei den Befehlen der Frau setzten sie sich beide sofort in Bewegung.
Die Frau selbst fasste Kiara nur kurz ins Auge, dann stakste sie mit entschlossenen Schritten durch das Büro. „Aus dem Weg.“
Kiara strauchelte auf die Beine, indem sie sich an der Wand abstützte, und kam der Anforderung der Frau nach. Diese griff in ihre Clutch und zog einen Lippenstift heraus. Sie entfernte die Abdeckung, bevor sie damit begann, vor der Tür in die Luft zu kratzen – ähnlich, wie es Draven mit seinem Ring gemacht hatte. Ihre Bewegungen waren allerdings deutlich schneller und koordinierter, der golden leuchtende Kreis und die inneren Ringe in wenigen Sekunden in die Luft gemalt. Sie tippte die Konstruktion einmal mit den Fingern an. Eine spürbare Druckwelle ging davon aus und im nächsten Moment löste sich die Tür innerhalb eines Wimpernschlags auf. Zurück blieb einzig und allein eine weiße Wand.
Die Frau steckte ihren Lippenstift zurück in die Clutch und drehte sich zu den Muskelprotzen um. Draven war inzwischen wieder zu sich gekommen, rieb sich stöhnend eine Stelle an seinem Kopf, während der Mann mit dem kantigen Kiefer ihm half, in eine sitzende Position hochzukommen. Der Stirnrunzler fischte unterdessen die Aktentasche unter einem der Tische hervor.
Ein halbes Dutzend Männer und Frauen flutete das Büro, allesamt gekleidet in altmodischen Uniformen mit weinroten Blazern, auf denen das Symbol zweier sich überkreuzenden Schlüsseln eingewebt war.
„Macht hier alles sauber“, forderte die Frau sie auf. Sie hatte sich bereits wieder von Kiara abgewandt, schien sie nicht einmal wirklich anzuerkennen. „Und fangt mit den Überresten des Daemons an. Wir wollen keinen weiteren Durchbruch riskieren. Diese Nacht wird schon lange genug.“
Mit diesen Worten wandte sie sich an Draven, ihr Ausdruck finster.
Blut rann ihm aus einer Wunde an seiner Stirn. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Hallo, Gina.“
„Was um alles in der Welt hast du dir nur dabei gedacht?“, fuhr sie ihn an. Sie sprach mit demselben Akzent wie Draven, nur war er noch härter, jedes ihrer Worte mit harten Konsonanten pointiert. „Dich allein, ohne Verstärkung, ohne zusätzliche Waffen, einem Level 3-Daemon zu stellen … Ich würde ja behaupten, dass ich nicht glauben kann, dass du so leichtsinnig sein würdest, aber dann würden mir uns alle nur selbst belügen. Die verbleibenden Hirnzellen in deinem Kopf scheinen lieber gegenseitig Ping Pong zu spielen, als aus deinen Fehlern auch tatsächlich zu lernen.“
„Wenn ich geahnt hätte, womit ich es wirklich zu tun habe, hätte ich selbstverständlich früher deine Hilfe angefordert“, beteuerte Draven. „Ich wusste nicht, dass die Dinge so außer Kontrolle geraten würden.“
„Oh, das tust du nie“, sagte Gina knapp. „Wir reden später noch. Glaub ja nicht, dass das keine Konsequenzen haben wird.“
Bevor Draven antworten konnte, warf ihm Muskelprotz Nummer zwei die Aktentasche zu. Er fing sie in der Luft auf und drückte sie an seine Brust, sichtliche Erleichterung über seine Züge flackernd.
„Und nun zu dir“, sagte Gina und fokussierte ihre Aufmerksamkeit endlich auf Kiara. Sie überwand die Distanz zwischen ihnen in raschen Schritten. „Wie viel hat sie von all dem mitbekommen?“, rief sie über die Schulter zu Draven zurück, ohne sich zu ihm zudrehen.
„Nun, sie war bereits hier, als ich ankam, aber …“
„Ein paar Stunden also. Das sollte reichen.“ Gina zog erneut ihren Lippenstift hervor. Bisher hatte sie Kiara noch kein einziges Mal richtig angesehen.
Draven rappelte sich vom Boden hoch. „Warte!“, rief er. „Bevor du ihr Gedächtnis löschst, solltest du …“
Kälte sickerte in Kiaras Gliedmaßen. „Mein Gedächtnis löschen?“
Gina verengte die Lider, sichtlich wenig amüsiert darüber, dass Draven ihr Vorhaben gerade offenbart hatte. Endlich sah sie Kiara an. „Keine Sorge. Es ist schnell und schmerzlos. Danach geht dein Leben weiter, als wäre nichts geschehen.“
„Was? Aber …“
„Halt einfach kurz still, ja?“
Während Gina den Lippenstift hob und vor Kiaras Stirn in der Luft verharren ließ, presste sich diese gegen die Wand in ihrem Rücken. Der ganze Wahnsinn, den sie in der letzten halben Stunde erlebt hatte … und nun würde sie all das einfach so vergessen?
„Gina“, wagte Draven einen neuen Versuch.
Sie ignorierte ihn, begann mit dem Lippenstift, goldene Linien in die Luft vor Kiaras Augen zu kratzen.
„Sie ist diejenige, die die Tür geschlossen hat“, platzte es aus Draven heraus.
Gina drehte den Kopf in seine Richtung, senkte die Hand aber nicht. Der halb-fertige Kreis schwebte vor Kiara in der Luft. „Wie bitte?“
„Ich wurde ausgeknockt. Sie hat die Tür verschlossen. Allein“, fügte er mit Nachdruck hinzu.
Verwirrt sah Kiara zwischen Gina und Draven hin und her. Ja, sie hatte die Tür verschlossen, aber was änderte das an der Lage? Es war die einzige Möglichkeit gewesen, das Monster fernzuhalten. Jeder hätte in Kiaras Situation dasselbe getan.
„Sie hat die Tür gesehen“, fuhr Draven fort. „Schon seit ihrem Auftauchen.“ Er verstummte einen Moment. Als er wieder sprach, hatte seine Stimme einen sanften, fast schon flehenden Ton angenommen. „Sie besitzt ein Talent, und wenn es sich bereits ohne Training in einem solchen Ausmaß zeigt … Du weißt, was das bedeutet. Sie könnte möglicherweise auf Sanjas Level sein.“
Ginas Augen weiteten sich. Ein Schwall von komplizierten Emotionen huschte über ihre Züge, bevor sie von einer eisernen Fassade weggeschwemmt wurden. Der Kreis verharrte nach wie vor in der Luft, nur noch die letzte Linie fehlte, um ihn zu vervollständigen. Mit einem Seufzer ließ Gina ihre Hand sinken. Die goldenen Linien lösten sich in kleine Funken auf, die zu Boden segelten und dort erloschen.
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Gina von Kiara ab. „Von nun an ist sie dein Problem, verstanden?“
Dravens Ausdruck hellte sich auf.
„Ich warne dich“, sagte Gina. „Wenn du das verbockst, versiegle ich all ihre Erinnerungen bis zum Kleinkindalter – und deine gleich mit.“