Im Grunde genommen gab es nur drei Regeln, die man befolgen musste, um als Magier in einer Stadt wie Camelot zu überleben:
Erstens, man vermied es, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Zweitens, man nutzte seine Magie nicht, um sich selbst zu bereichern.
Und drittens – das war der wichtigste Punkt! – man setzte seine Magie niemals, unter keinen Umständen, in der Öffentlichkeit ein.
An diesem Abend war Caelia Evergreen einmal mehr dabei, alle drei gleichzeitig zu brechen.
Die Woche neigte sich dem Ende zu und die Goldene Gans war voll, das Gelächter der Anwesenden und die Klänge des Barden laut genug, dass die alten Holzwände der Taverne zu zittern schienen. Die Luft war warm, angefüllt mit dem vertrauten Geruch von Bier, Schweiß und heißer Suppe. Caelia stand bei einer der Säulen in einem schlecht beleuchteten Teil des Raumes, lehnte lässig gegen die alte Holzstruktur, die Arme vor der Brust verschränkt, in einer Hand der halb leere Krug mit Ale. Nur eine weitere Besucherin der Taverne, die einen langen Arbeitstag mit Musik und Alkohol ausklingen ließ – so zumindest das Bild, das sie auf den ersten Blick abgab. Niemand der Anwesenden ahnte, dass Caelia nicht hergekommen war, um ihren Feierabend zu genießen, sondern um zu arbeiten.
Sie sah zu Hectors Tisch hinüber. Er hatte sich mit einer Gruppe von Männern in einer Ecke des Raumes niedergelassen, den Rücken dem Fenster zugewandt, damit er mit Caelia noch Blickkontakt halten konnte. Er hielt ein paar Spielkarten in der einen Hand, wartete auf den Zug seines Gegners – ein korpulenter Mann mit einem roten Bart –, während er mit den Fingern der anderen ungeduldig auf der Tischplatte trommelte. Drei kurze Schläge mit dem Zeigefinger, dann einer mit dem kleinen Finger. Eine Königin.
Caelia nahm einen Schluck von ihrem Ale, ließ ihren Blick weiter schweifen, bevor zu offensichtlich wurde, was sie tat. Nachdem sie sichergestellt hatte, dass sie nicht beobachtet wurde, zog sie ihre freie Hand unter dem Umhang hervor und richtete ihre Fingerspitzen unauffällig in Hectors Richtung. Mit einem Atemzug beschwor sie jenes wohltuende Kribbeln herauf, das sie sonst stets tief in ihr Unterbewusstsein zurückdrängte. Die Worte, die sie flüsterte, wurden von der Musik und dem Gelächter des Raumes verschluckt.
Wendan.
Caelia blinzelte ein paar Mal, bis sie sich sicher war, dass das Kribbeln vollständig abgeklungen war. Erst dann wagte sie es, aufzusehen. Hectors Blick traf sie von der anderen Seite des Raumes. Er zwinkerte ihr zu – so unauffällig, dass es allein Caelia auffiel. Die Nachricht war dennoch eindeutig: Es hatte funktioniert.
Mit einem triumphierenden Grinsen legte Hector seine Karten vor sich ab. Aus der Distanz konnte Caelia nicht hören, was er sagte, aber die Reaktion seines Gegners erzählte ihr bereits alles. Während Hector lässig die Arme hinter dem Kopf verschränkte, ließ Rotbart wutschnaubend seine Fäuste auf den Tisch niedersausen.
Die Unruhe in der Ecke blieb nicht unbemerkt. Aus dem Augenwinkel sah Caelia, wie Ophélie, die Tavernenbesitzerin, die Gruppe vom Tresen aus beobachtete. Hector war gerade damit beschäftigt, die Goldtaler vom Tisch in seine Tasche zu räumen. Es war genug, um die nächsten Wochen über die Runden zu kommen – angenommen, Hector verspielte nicht wieder alles davon. Mit einer schnellen Bewegung des Kinns wies Caelia ihn unauffällig an, dass es Zeit war, zu gehen.
Wenn Hector ihr Signal bemerkt hatte, dann ignorierte er sie. Mit geheuchelter Lässigkeit ließ er einen Taler nach dem anderen in seinem Sack verschwinden, kostete den Moment seines Triumphs voll und ganz aus. Rotbart war inzwischen vor Wut pink angelaufen.
„Er hat betrogen!“, rief er – laut genug, dass einige der Anwesenden sich in seine Richtung umdrehten. „Dieser Bastard hat mich betrogen!“
Rasch räumte Hector die letzten Taler weg und ließ den Sack dann in seiner Manteltasche verschwinden. Er wandte ein paar Worte des Abschieds an die Männer am Tisch und setzte sich in Bewegung. Weit kam er nicht, denn Rotbart packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Wand.
„Ich weiß, dass du betrogen hast!“, schrie er. „Niemand hat so viel Scheiß-Glück an einem verdammten Abend!“
Hector versteifte sich. Dünn und lang, wie er war, gab es nichts, was er gegen Rotbart hätte ausrichten können.
„Hey!“, mischte sich nun Ophélie ein. „Keine Schlägereien in meiner Taverne, verstanden?“
„Dieser Hurensohn hat mich über den Tisch gezogen!“
„Oder“, widersprach Hector, die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen, „du bist einfach ein miserabler Verlierer.“
Rotbart entwich ein Schrei. Hector konnte sich gerade noch unter dem Schlag wegducken, bevor die Faust des anderen Mannes mit der Wand kollidierte. Holz splitterte auf. Ophélie stürmte hinter dem Schanktisch hervor. Hector wieselte sich an Rotbart vorbei, aber er kam nur wenige Fuß weit, bevor dieser ihn am Ärmel packte.
Caelia entglitt ein Seufzer. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sie diesem Idioten nicht mehr ständig den Hintern retten musste. Aber dieser Tag war nicht heute.
Während Ophélie nach Ordnung rufend durch die Menge stapfte und Rotbart sich drohend vor Hector aufbaute, fasste Caelia einen leeren Stuhl auf der anderen Seite des Raumes ins Auge. Sie wisperte ein paar magische Worte, dann flog der Stuhl auf einmal wie von Geisterhand durch die Taverne und traf Rotbart mit einem lauten Krachen an der Schulter.
Er fuhr herum. „Wer bei den Caliburns Klinge war das?!“
„Da drüben!“, rief Caelia und wies in eine zufällige Richtung. „Das kam von da drüben!“
Der gewünschte Effekt trat sofort ein.
Rotbart stieß Hector von sich und stürmte mit hochrotem Gesicht auf den Mann zu, auf den Caelia gezeigt hatte. Dieser sprang von seinem Stuhl auf, die Hände in Abwehrhaltung erhoben. Doch bevor er überhaupt Zeit hatte, sich zu verteidigen, hatte ihn auch schon Rotbarts Faust im Gesicht getroffen.
Chaos schwappte durch die Taverne wie heiße Milch, die gerade über den Kesselrand gekocht war. Ellbogen wurden in die Seite gestoßen, Bierkrüge verschüttet, und bevor Caelia sich versah, war jede Frau und jeder Mann im Raum in die ausbrechende Schlägerei verwickelt.
Sie duckte sich, um einer fliegenden Suppenschüssel auszuweichen, die hinter ihr an der Wand zerbrach. Während die Schreie und Beleidigungen von allen Seiten anschwollen, nutzte Caelia die Gelegenheit, sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Sie zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht und huschte durch die tobende Menge. Einen Atemzug später war sie durch die Hintertür nach draußen geschlüpft.
Plötzliche Stille hüllte sie ein. Vom Chaos aus dem Inneren der Taverne waren nur noch gedämpfte Geräusche zu hören. Frische Nachtluft umschlang Caelia, kühlte ihre glühenden Wangen.
Sie wartete nicht auf Hector – nach dem, was gerade geschehen war, konnte sie nicht riskieren, mit ihm gesehen zu werden. Sie hatte getan, was sie konnte. Er würde wohl oder übel selbst einen Weg nach Hause finden müssen.
Je weiter Caelia sich von der Taverne entfernte, desto leiser wurden die Klänge des Chaos, das sie hinterlassen hatte. Die Stille wurde alles einnehmend – wie eine Kuppel, die sich über Camelot gestülpt hatte. Nachts entblößte die Stadt ihre wahre Schönheit. Ohne das Getümmel der Menschen, fernab von den Marktschreiern und den Händlern, die auf den Plätzen ihre Waren feilboten, war Camelot ein magischer Ort. Kunstvoll bemalte Fassaden, die sich links und rechts von Caelia in die Höhe erstreckten, schiefe Pflastersteinstraßen, welche sich durch das Labyrinth der Stadt schlängelten, und über allem ein klarer Himmel, an dem sich ein Diamantenteppich aus Sternen ausgebreitet hatte. Das war Caelias Zuhause – die Stadt, in der sie aufgewachsen war und alles gelernt hatte, was sie wusste, genauso Teil von ihr wie das Glühen der Magie zwischen ihren Rippen.
Sie erreichte den Marktplatz. Tagsüber drängten sich hier Menschen Schulter an Schulter vorbei, um ihre Einkäufe zu erledigen und Waren aus aller Welt zu bewundern. Jetzt hingegen waren die Stände verlassen, schwarz bemalt von den Schatten der umstehenden Häuser. Im Zentrum des Platzes thronte ein Baum – mächtig genug, dass seine dicken Wurzeln einige Pflastersteine ausgehoben hatten. Seine Äste waren breit wie kleine Baumstämme und geschmückt mit den satten Blättern des Sommers.
Selbst aus der Distanz konnte Caelia die Magie spüren, welche im alten Harz pochte. Wie viele Menschen hatte dieser einfache Baum in den letzten Jahrhunderten kommen und gehen sehen? Wie vielen prägenden Momenten in Camelots Geschichte hatte er als stummer Zuschauer beigewohnt? Er hatte schon hier gestanden, bevor König Artus das Schwert aus dem Stein gezogen und den Falschen Zauberer aus Albion vertrieben hatte. Er war der Letzte seiner Art, denn all seine Brüder und Schwestern waren damals vor hundert Jahren dem Feuer im magischen Wald Brocéliande zum Opfer gefallen.
„Hey! Was machst du da?“
Eine Gestalt war am Eingang zum Platz aufgetaucht – eine junge Frau, vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit blasser Haut und blonden Haaren, die sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Rüstung und der rote Umhang mit dem Emblem des Greifens zeichneten sie als Teil der Rittergarde aus: Eine Truppe steifer, eingebildeter Elitesoldaten, welche sich dem Schutz Camelots verpflichtet hatten – und das Allerletzte, was Caelia gerade gebrauchen konnte.
„Es ist gefährlich, sich nachts auf den Straßen herumzutreiben“, erklärte die Ritterin.
„Ach ja?“
„Eine junge Frau wie du sollte sich um diese Uhrzeit nicht allein draußen aufhalten.“
„Und doch bist du hier.“
Die Ritterin verschränkte die Arme vor ihrem Brustpanzer. „Ich habe dich gesehen. Außerhalb der Taverne.“
„Seit wann ist es verboten, etwas Spaß zu haben?“, fragte Caelia. Sie ließ ihren Blick über die Ritterin schweifen. Sie war gut gebaut, muskulös, auch wenn sie ein Gesicht zog, als hätte jemand seinen Nachttopf über ihrem Kopf ausgeschüttet. „Dir würde es auf jeden Fall nicht schaden“, fügte sie an.
Die Miene der Ritterin veränderte sich nicht – wenn überhaupt, dann hatte Caelia das Gefühl, dass sie eher noch finsterer wurde. „Du hältst dich wohl für besonders clever, was?“
„Nicht sonderlich schwer bei der aktuellen Konkurrenz.“
„Ich weiß, dass du etwas mit diesem Chaos bei der Goldenen Gans zu tun hast. Du und dieser Hector. Wir haben euch schon eine Weile im Auge. Ihr zwei scheint über geradezu wundersames Kartenglück zu verfügen.“
„Was soll ich sagen? Das Schicksal ist uns eben gnädig.“
„Mhm. Euch und eurem Geldbeutel.“
Caelia verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin mir nicht sicher, was das hier werden soll, aber wenn du außer haltlosen Vorwürfen keine konkreten Beweise vorzuweisen hast, dann sind wir fertig.“
Anstelle einer Antwort griff die Ritterin in ihre Tasche und zog etwas hervor, das auf den ersten Blick wie ein zusammengefaltetes Stück Papier aussah. Erst, als es Caelia genauer betrachtete, realisierte sie, dass es in Wirklichkeit eine Spielkarte war. Die obere Hälfte zeigte die Zeichnung eines Bauern – die schwächste Karte im Spiel. Im unteren Teil waren hingegen die Umrisse der Königin zu erkennen, die feinen Linien ihrer Zeichnung verblassend, als würde eine unsichtbare Macht langsam die Tinte heraussaugen.
„Das ist die Karte, die ich an eurem Tisch gefunden habe“, erklärte die Ritterin. „Sie ist von einem Zauber umgeben, der ihr Erscheinungsbild verändert. Faszinierend, nicht wahr?“
„Überwältigend, ja. War das alles?“
„Der Besitz von magischen Artefakten jeglicher Art ist in Camelot und dem Rest von Albion strengstens verboten.“
„Du kannst nicht beweisen, dass ich irgendetwas damit zu tun hatte.“
„Nein“, stimmte die Ritterin zu, „aber ich habe das Recht, dich drei Tage im Kerker festzuhalten, falls der Verdacht besteht.“
Ein feines Grinsen zupfte an Caelias Mundwinkeln. „Weißt du“, seufzte sie, „wenn du mich näher kennenlernen willst, hättest du mich auch einfach fragen können.“
Die Ritterin blinzelte ein paar Mal überrumpelt, ihre blassen Wangen nun plötzlich hellrosa gefärbt. Caelia nutzte die Chance, nahm die Beine in die Hand und rannte los.
Sie war noch nicht einmal in die nächste Straße eingebogen, als sie lautes Fluchen hinter sich vernahm, gefolgt von metallischem Scheppern. Caelia sah über die Schulter zurück. Trotz der Rüstung war die Ritterin deutlich schneller, als sie erwartet hätte.
Caelia hechtete um die Ecke. Die Ritterin holte weiter zu ihr auf, eine Hand am Schwertgriff. Einige Stockwerke über ihren Köpfen spannten sich Wäscheleinen mit nasser Kleidung zwischen den Hauswänden. Einmal mehr beschwor Caelia das Kribbeln hinauf. Ihre Magie war ein lebendiges Ding, freute sich darüber, schon wieder an die Oberfläche gerufen zu werden. Caelia konzentrierte sich. Sie sah zu den Wäscheleinen hoch, dann presste sie das magische Wort zwischen ein paar hektischen Atemzügen hervor.
Dropan.
Mit einem dumpfen Geräusch lösten sich die Haken, an denen die Wäscheleinen befestigt waren. Caelia konnte sich gerade noch unter einer fliegenden Hose hindurchducken, bevor die nassen, schweren Kleidungsstücke auf die Straße stürzten. Hinter sich vernahm sie Fluchen, gefolgt von einem lauten Scheppern. Als Caelia nach ein paar Schritten wieder zurückzusehen wagte, erkannte sie, wie die Ritterin sich gerade schimpfend unter einem Klamottenberg hervorkämpfte.
Caelia tauchte tiefer in das Wirrwarr aus Abzweigungen und Straßen ein, bis sie sich sicher sein konnte, dass sie die Ritterin tatsächlich abgehängt hatte. Erst dann schlug sie den Weg nach Hause ein.