Leseprobe zu EPIC: Das erwachen

Prolog

 

Jede Geschichte braucht einen Anfang. Wenn du dies liest, dann hast du den Anfang unserer gefunden.

Es gibt so viel, was wir dir an dieser Stelle erzählen wollen. Über Magie und alte Prophezeiungen und die Macht, den Lauf des Schicksals für immer zu verändern. Doch wie bei allen guten Geschichten musst du erst den Anfang begreifen, bevor du das Ende verstehen kannst.

Jede Geschichte braucht einen Anfang; und unsere nahm ruhig und kaum hörbar ihren Lauf, schlich sich unauffällig an uns heran und überfiel uns in einem Moment, als wir sie am wenigsten erwarteten. Es geschah an einem warmen Tag im Oktober, als sich die Bäume im Innenhof vom Amberwood College rot verfärbt hatten und die Luft so klar war, dass man das Funkeln der Tautropfen im Gras erkennen konnte. An jenem Tag gerieten wir zwischen die antiken Zahnräder einer Geschichte, die älter ist als die Menschheit selbst; umwoben von dunklen Geheimnissen und vergangener Magie.

Wenn du dies liest, dann wird dir vieles klar werden. Wenn du dies liest, dann werden wir die Entscheidung, mit der wir momentan konfrontiert sind, bereits getroffen haben. Wir können nur hoffen, dass es die richtige ist. Für uns. Für die Zukunft. Für alles, was je auf diesem Planeten gelebt hat und noch leben wird.

Jede Geschichte braucht einen Anfang. Unsere beginnt genau hier.

 

Kapitel 1

Jennifer

 

An dem Tag, der mein Leben für immer verändern würde, wachte ich gemeinsam mit den ersten Sonnenstrahlen auf, die sich über die Hügel von Amberwood erstreckten. Ich hatte keinen Wecker gestellt, denn meine innere Uhr war zuverlässiger, als jedes Handy es hätte sein können. Aufgeregt schwang ich meine Beine aus dem Bett, tapste über den Parkettboden zum Fenster und öffnete es. Kühle Luft wehte durch meine blonden Haare, die normalerweise wie starre Strohhalme über meine Schultern hingen, und ließ mich erschaudern.

Der Anblick war wie jeden Morgen atemberaubend. Das Zimmer, das ich mir mit meiner Mitbewohnerin teilte, befand sich auf der Ostseite des Gebäudes, unweit vom kleinen Fluss entfernt, hinter dem der Wald begann. Ich konnte das Wasser plätschern hören, aber nur, weil alle Schüler des Internats noch schliefen und ihr Gelächter aus dem Innenhof es nicht wie sonst übertönte. Der Fluss glitzerte im Licht der aufgehenden Sonne, deren Umrisse hinter den dunklen Schatten des Waldes hervortraten.

Es konnten nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein, bevor ich frierend von einem Bein aufs andere trat und das Fenster rasch wieder zuzog. Dann balancierte ich zwischen Strümpfen, hohen Schuhen und BHs auf dem Boden zum Kleiderschrank hinüber. Leise summend schlüpfte ich in den blau-karierten Rock und das zerknitterte Hemd, über das ich anschließend das ärmellose Oberteil aus Wolle zog. Obwohl das Tragen der Krawatte zur Schuluniform freiwillig war, mochte ich das Gefühl, das sie mir gab. Sie war mein morgendlicher Beweis dafür, dass ich meinen Traum vom Amberwood College Wirklichkeit hatte werden lassen. Ich hatte es tatsächlich geschafft, ein Stipendium an der renommiertesten Schule Großbritanniens zu ergattern. All die Arbeit hatte sich endlich ausgezahlt.

Während ich meine Haare vor dem Spiegel kämmte, regte sich meine Mitbewohnerin Caroline unter ihrer Decke.

»Mensch, Jenn …«, hörte ich sie murmeln. »Wieso bist du schon wach? Es ist nicht mal sieben Uhr.«

»Lass dich nicht stören«, sagte ich schnell. »Ich bin gleich weg.«

»Weg? Bist du wahnsinnig?«, stöhnte Caroline. »Wo willst du um diese Zeit hin?«

»Vorbereitungen«, erklärte ich und versuchte mit den Fingern einen Knoten in meinen Haaren zu lösen. »Du weißt schon: für das Suppenessen in der Kantine heute.«

»Ach ja«, kam es von Caroline. »Der Diät-Tag.«

»Welthungertag«, korrigierte ich sie.

»Was auch immer.«

Caroline war so wenig eine Frühaufsteherin, wie sie eine Weltverbesserin war, aber ich hätte mir trotzdem keine bessere Mitbewohnerin wünschen können. Sie war die erste Person am Internat, die je mit mir gesprochen hatte, und sie war eine der Einzigen, die mich nicht dafür verurteilten, dass ich wegen eines Stipendiums hier sein konnte und nicht wie der Rest der Schüler aufgrund reicher Eltern.

Auf Zehenspitzen schlich ich aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir. Wie erwartet, war der Flur um diese Zeit noch leer. Das Knarzen der Dielen unter meinen Füßen war das einzige Geräusch, das zu hören war.

Ich stieg die Stufen zur Eingangshalle hinunter und stieß die breite Doppeltür auf der anderen Seite auf. Die Stille, die sich über den Raum dahinter gelegt hatte, war ungewohnt und ließ mich einen Moment auf der Schwelle innehalten. Die Kantine war zweifellos der modernste Teil des Gebäudes mit den Kaffee- und Snackautomaten neben dem Eingang, den bodentiefen Fenstern und den hohen Säulen, an denen oft die neusten Werke der Kunstklasse aufgehängt wurden. Es gab sogar einen Garten, in dem man während den warmen Tagen draußen sitzen konnte, aber nach dem Regen der letzten Wochen war der Rasen dort nun matschig und braun.

Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Als ich an der Kioskkasse vorbeiging, fielen mir einmal mehr die Plakate auf, die an der Pinnwand hinter der Theke hingen. Es war, als würden mich die drei Gesichter, unter denen in fett gedruckten Buchstaben das Wort Vermisst stand, regelrecht mit ihren Blicken durchbohren. 

Lucy Grant. Matthew Dalton. Nial Carter. Das waren die Namen der Vermissten, die vor einer Woche aus dem Internat verschwunden waren. Wenn man Direktor Charleston und der Polizei von Inverness glaubte, dann waren sie bloß ein paar jugendliche Ausreißer, denen das Leben hier zu viel geworden war. Ich hatte den Eindruck, dass es niemanden an der Schule wirklich interessierte, dass sie weg waren. Selbst die lokalen Zeitungen hatten nur wenige Tage über die drei berichtet, bevor sie wieder zu ihren Promi-Skandalen und Autounfällen zurückgekehrt waren.

Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich so diese bedrückenden Gedanken verdrängen, und setzte meinen Weg in die Küche fort.

Tarik stand hinter der großen Theke, welche fast die gesamte Mitte der Küche einnahm, und sang laut zu irgendwelcher Chartmusik, während er mit rhythmischen Bewegungen Kartoffeln schälte. Er bemerkte mich nicht, weil er seinen Blick auf den Sparschäler in seiner Hand gerichtet und die Kopfhörer aufgesetzt hatte. Ich kam nicht umhin breit zu grinsen, als ich ihn dabei beobachtete, wie er seinen Körper im Takt der Musik bewegte. Er war überraschend gut darin, seine Hüfte kreisen zu lassen und im selben, geschmeidigen Ablauf die Kartoffeln zu schälen, fast so, als gehöre das zu seinem Tanz. Im Gegensatz zu mir hatte er ein durchaus funktionsfähiges Rhythmusgefühl und konnte seinen sonnengebräunten Körper in einer Art und Weise verrenken, welche die Evolution auf keinen Fall für Menschen beabsichtigt hatte. Was bei anderen ausgesehen hätte, als hätten sie einen elektrischen Zaun berührt, war bei Tarik eine Welle, die ihn von seinen Zehenspitzen bis zu seinem dunklen Haarscheitel durchflutete und ihm die Leichtfüßigkeit und die Beweglichkeit eines Hochseilartisten verlieh.

Immer noch grinsend, schnappte ich mir eine der Kartoffeln, die in einer Kiste neben dem Eingang standen, und warf sie Tarik an den Kopf. Er fuhr herum und riss sich erschrocken seine Kopfhörer von den Ohren. Als sein Blick auf mich fiel, nahm sein Gesicht einen sanfteren Zug an und er schnalzte mit der Zunge.

»Mit Lebensmitteln werfen? Also bitte, Jennifer! Ich dachte, du wärst besser als das«, zog er mich auf. Er beugte sich hinunter, um die Kartoffel aufzuheben, und warf sie in hohen Bogen zurück zu mir. Ich fing sie geschickt auf.

»Du hättest mich wohl noch bis Weihnachten hier warten lassen, wenn ich dich nicht auf mich aufmerksam gemacht hätte«, entgegnete ich und ließ die Kartoffel zurück in die Kiste sinken. »So vertieft, wie du in deine kleine Tanzeinlage warst.«

Tarik hob die Brauen. »Wie lange stehst du da schon?«

»Oh, nur ein paar Minuten«, antwortete ich. »War ganz süß, dir zuzusehen. Ich habe dich echt nur ungern unterbrochen.«

»Süß?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Süß ist der Handtaschenköter meiner Nachbarin. Das gerade eben? Das war Kunst.«

»Du bezeichnest Camila Cabello als Kunst?«, witzelte ich und wies mit dem Kinn auf seine Kopfhörer. Aus den Lautsprechern drangen die bekannten Klänge von Havana.

»Sie ist mehr als Kunst«, erwiderte Tarik. Seine Augen begannen zu leuchten. »Sie ist eine Göttin, Jenn. Eine Göttin.«

Kopfschüttelnd nahm ich meine Schürze vom Haken und wusch mir die Hände. Ich hatte Tariks Besessenheit von Camila Cabello noch nie verstehen können, aber ich mochte die Euphorie, die ihn befiel, wenn er von ihr sprach.

Nachdem ich mir mein Bündel Kartoffeln geschnappt und damit begonnen hatte, sie zu schälen und zu zerstückeln, legte Tarik seine Kopfhörer zur Seite und schaltete stattdessen das Radio ein. Irgendwann hatte sich unsere gewohnte Routine eingestellt, bei der wir wortlos nebeneinanderstanden und gemeinsam unsere Arbeit verrichteten; er leise vor sich hin summend, ich in Gedanken verloren.

Etwa eine Woche nach meiner Ankunft in Amberwood hatte ich zum ersten Mal die Küche betreten. Ich hatte am Mittag keinen freien Tisch in der Kantine finden können, weil keiner der anderen Schüler Platz für mich hatte machen wollen. Meine Frage, ob hier noch frei sei, war stets mit dummen Sprüchen und kindischen Kommentaren abgefertigt worden. Also hatte ich mich lieber mit meinem Tablett neben der Eingangstür hingesetzt. Als Tarik mich dort am Boden kauern gesehen hatte, hatte er mir spontan angeboten, mit ihm im Aufenthaltsraum für Kantinenmitarbeiter essen zu kommen. Nach fünfundvierzig Minuten, in denen ich ihm mein Herz über meinen holprigen Start am Amberwood College ausgeschüttet hatte, war mir klar geworden, dass ich soeben einen Freund an dieser Schule gefunden hatte.

Seitdem half ich regelmäßig in der Küche aus, wenn ich zwischen dem Unterricht und den Hausaufgaben Zeit dafür fand, und versuchte mich irgendwie einzubringen. Ich hatte beispielsweise die Idee gehabt, die Küchenabfälle als Dünger für einen internatseigenen Garten zu verwenden und damit im nächsten Sommer Gemüse zu ziehen. Auch das Suppenessen am heutigen Welthungertag war mein Vorschlag gewesen. Obwohl Koch Sauer anfangs alles andere als begeistert gewesen war, hatte ihn mein Argument, dass er damit weniger Arbeitsaufwand in der Küche hätte als an normalen Tagen, schließlich überzeugt. Immerhin ging es hier um einen guten Zweck – nämlich Geld zu sammeln für Kinder in Krisengebieten – und es konnte keinem am College schaden, einen Tag lang bescheiden zu sein. Dass meine reichen und privilegierten Mitschüler die Idee nicht ganz so positiv aufgenommen hatten, war zu erwarten gewesen. Aber wie mein Vater immer zu pflegen sagte: »Du kannst kein Kämpfer werden, ohne auf Widerstand zu stoßen.«

 

* * *

 

Wir verbrachten den ganzen Morgen damit, die Gemüsesuppe vorzubereiten. Irgendwann tauchten Koch Sauer und die anderen Mitarbeiter auf und als gegen elf Uhr, wie es an Wochenenden immer der Fall war, die ersten hungrigen Schüler in die Kantine strömten, waren wir bereit. Tarik und ich schöpften die Teller, die uns über die Theke gereicht wurden, und auch wenn nicht so viele Leute kamen wie an anderen Tagen, hatte ich das Gefühl, dass die ganze Aktion ein Erfolg war.

Oder zumindest war sie das, bis er auftauchte: Rowan McGuire, der ungekrönte König der Schule. Neben seiner Rolle als gut aussehender Kotzbrocken war er vor allem eins: ein Superstar. Er war der jüngste Sänger, der je durch YouTube bekannt geworden war, mit Millionen auf seinem Konto, schreienden Fans vor seinem Fenster und einem schnulzigen Lächeln, wegen dem Mädchen auf seinen Konzerten reihenweise in Ohnmacht fielen. Im zarten Alter von sechzehn Jahren war er dann zum ersten Mal wegen Drogen- und Alkoholexzessen in den Schlagzeilen gelandet. Nach einem Jahr voller Skandale und peinlichen Eskalationen hatten ihn seine Therapeuten kurzerhand nach Amberwood verbannt, um ihm eine »normale Jugend« zu ermöglichen. 

»Normal« war trotzdem nichts an ihm, und die teure Lederjacke und die 10’000-Pfund-Uhr an seinem Handgelenk trugen nichts dazu bei, diesen Eindruck zu ändern. Rowan war genau die Person, vor der mich meine Eltern immer gewarnt hatten, als ich mich entschieden hatte, das Stipendium für das College anzunehmen: Der reiche, eingebildete Schnösel aus gutem Hause, der keine Ahnung von der wirklichen Welt hatte.

Im Schlepptau folgte der Rest von Rowans Clique: Dominik Simpson, der Sohn des gleichnamigen Fußballspielers, und Amanda Copperfield, die ihre Ankunft wie immer mit dem hohlen KLACK-KLACK ihrer High Heels ankündigte. Sie war die Nichte von Schuldirektor Charleston und Drittplatzierte bei Britain‘s Next Topmodel 2016 – und das war eigentlich auch schon alles, was man über das It-Girl der Schule wissen musste, denn sie besaß keine weiteren nennenswert positiven Charaktereigenschaften.

»Hey, Zahnspange«, sagte Rowan, als er und seine Freunde vor der Essensausgabe stehen geblieben waren. Seit meiner Ankunft hier in Amberwood hatte er es sich zu seinem persönlichen Hobby gemacht, mich mit jenem bescheuerten Spitznamen aufzuziehen. Dabei waren mir die Metalldrähte in meinem Mund hundertmal lieber als seine gebleichten Zahnreihen.

Wortlos nahm ich seinen Suppenteller entgegen. »Gemüse oder Tomate?«, fragte ich, ohne ihn anzusehen. Sein Gesicht mit jenen viel zu perfekt geformten Lippen hatte die Tendenz, einen instinktiven Würgereiz in mir auszulösen, wenn es sich in mein Blickfeld schob. 

»Gemüse«, antwortete er, spielte mit einer seiner dunklen Haarlocken und lehnte sich gelassen gegen die Theke. Eine Duftwolke aus großzügig aufgetragenem Deo schlug mir entgegen. So musste man wohl seinen Geruch überdecken, wenn der eigene Charakter bis zum Himmel stank.

Ich füllte den Teller mit Gemüsesuppe und reichte ihn dann über die Essensausgabe zurück. Als Rowan ihn mit einem frechen »Danke, Zahnspange« entgegennahm, zeichneten sich seine durchtrainierten Oberarme deutlich unter seinem Pullover ab. Er wollte gerade weitergehen, als Amanda sich plötzlich vor mir über die Theke lehnte.

»Nette Aktion, die du da auf die Beine gestellt hast«, bemerkte sie. Dominik, der hinter ihr in der Schlange stand und ihr folgte wie ein Entenküken seiner Mutter, stieß grunzende Laute aus, die ich als Lachen interpretierte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte ihren Blick. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich für den Welthunger interessierst.«

»Nichts ist mir wichtiger als das«, entgegnete sie und nahm den Teller entgegen, den Tarik ihr eben geschöpft hatte. Ein schleimiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Solange der Rest der Welt hungert, muss ich mir wenigstens keine Gedanken darüber machen, irgendetwas teilen zu müssen.« Damit drehte sie den Suppenteller um und ließ den gesamten Inhalt auf den Boden klatschen. »Ups«, sagte sie. »Wie furchtbar ungeschickt von mir.«

Ich war so fassungslos, dass ich Amanda im ersten Moment nur anstarren konnte. Rowan kippte den Inhalt seines Tellers in den Mülleimer und klatschte sich mit Dominik ab, während Amanda süffisant lächelte.

»Na warte!«, stieß ich aus und wäre vermutlich an Ort und Stelle über die Essensausgabe geklettert, um ihr meine Meinung zu sagen, wenn Tarik mich nicht zurückgehalten hätte.

»Jenn, beruhige dich!«, raunte er mir zu. Ich wand mich in seinem Griff wie eine Wildkatze und packte meine ganze Sammlung an Kraftausdrücken aus, um sie Amanda und ihren schleimigen Freunden ins Gesicht zu spucken. Diese hingegen verfielen bloß in schallendes Gelächter. »Kommt, wir holen uns eine Pizza«, verkündete Dominik, bevor er mit Rowan und Amanda und einem dreckigen Grinsen auf den Lippen aus der Kantine stolzierte.

Als ich Luft holen musste, um mir die nächsten Beleidigungen zurechtzulegen, hielt ich inne. In der Kantine war es totenstill geworden. Die Leute in der Schlange starrten mich alle an, während diejenigen, die bereits an ihren Tischen saßen, fragende Blicke austauschten. Einmal mehr hatten Rowan McGuire und seine Clique es geschafft, einem ganzen Saal voller Menschen den Atem zu rauben. Auch ich brachte kein Wort mehr hervor, aber nicht, weil ihre Vorführung eben so brillant gewesen wäre, sondern eher, weil mir gerade die Kotze im Hals stecken geblieben war. 

 

Kapitel 2

Rowan

 

Als ich die Kantine durch die breiten Doppeltüren verließ, fühlte ich mich seit Langem wieder einmal wie ich selbst. Ich vermisste das Gefühl, das die Leute mir gaben, wenn sie mich mit einem Blick aus Ehrfurcht und Bewunderung anstarrten. Für einen kurzen Moment war ich dann Teil ihrer Gedanken, Teil ihres Lebens – und das berauschte mich wie keine andere Droge, die ich je probiert hatte. Natürlich war ein Konzert im Wembley-Stadion etwas völlig anderes als die kleine Performance, die Amanda eben in der Cafeteria abgezogen hatte. Aber unterm Strich war der Effekt derselbe: Die Leute redeten über uns – über mich – und das wiederum ließ mich glauben, dass ich ohne meine Musik doch nicht ganz so irrelevant war, wie mir die Stimmen in meinem Kopf einreden wollten.

Wir ließen einen Lieferservice aus Inverness herkommen und verzogen uns anschließend in den Innenhof, wo wir uns auf die ölige Salamipizza stürzten.

»Habt ihr ihren Blick gesehen?«, schmatzte Dominik, nachdem wir uns an einem der Tische breitgemacht hatten. Sein Lachen hörte sich in etwa so an, als hätte man ein Schwein mit einem Pavian gepaart, und sein Gesicht bestätigte diesen Eindruck nur noch mehr. Dominik war einer dieser Leute, die gerne bei anderen damit angaben, mit mir befreundet zu sein (was er nicht war), weil es sonst nichts gab, womit sie angeben konnten. Bis vor Kurzem war er noch mit Brad Roy, dem anderen Paviangesicht der Schule, unterwegs gewesen und hatte in der Schulhierarchie irgendwo zwischen Außenseiter und Mobber gestanden. Seit Matt Dalton – der Letzte des Idiotentrios – verschwunden war, war er in der Rangliste aufgestiegen. Jetzt hielt er sich plötzlich für cool genug, mit mir und Amanda abzuhängen. Auch wenn ich wusste, dass sie nur so tat, als ob sie ihn mögen würde, weil er gerade dasselbe durchmachte wie sie.

»Ein paar Sekunden länger und sie wäre explodiert«, fuhr Dominik grunzend fort. »Habt ihr gesehen, wie die Alte ausgeflippt ist? Das war echt gut, Amanda.«

Ich lächelte gezwungen. Er himmelte Amanda an wie ein sabbernder Hund einen Knochen. Vermutlich malte er sich tatsächlich Chancen bei ihr aus – jetzt, wo Nial verschwunden war. Dabei wusste jeder Schüler an der Bildungsfestung ganz genau, dass Amanda sich niemals auf das Niveau einer notgeilen Jungfrau wie Dominik hinab begeben würde.

»Komm schon, McGuire. Jetzt zieh nicht so ein Gesicht.« Amanda lehnte sich über den Tisch und entblößte dabei ihr gewaltiges Dekolleté. »Du hast dich doch nicht etwa in Zahnspange verguckt, oder?«

»Sei nicht albern«, entgegnete ich und versuchte, einen neutralen Ausdruck zu bewahren. »Jennifer ist mir genauso egal wie der Rest der Leute hier.« Okay, vielleicht nicht genauso. Im Gegensatz zum Rest der Heuchler an der Bildungsfestung himmelte sie mich nicht an, als wäre ich ein griechischer Halbgott. Sie hatte ihre Abneigung gegen mich noch nie versteckt – und das machte sie mir unerklärlich sympathisch. Ich mochte ihre Ehrlichkeit. 

»Oh, Jennifer«, säuselte Amanda theatralisch. Inzwischen war sie mir so nahe gekommen, dass ich ihren Atem auf meinen Wangen spüren konnte. »Lasset mich Eure zarten Lippen küssen! Lasset uns unsere Gemächer teilen und Beischlaf vollziehen, oh Ihr entzückende Schönheit!«

Ich stieß Amanda von mir weg. Grinsend ließ sie sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Dominik verfiel in einen Lachanfall – oder eher einen Asthma-Anfall, so genau konnte man das nie sagen – und spuckte dabei Essensreste auf den Tisch, die zwischen seinen Zähnen festgehangen hatten.

»Die Performance solltest du dir für die nächste Probe aufheben«, sagte ich. »Ich bin sicher, der Sinclair wäre begeistert davon.«

»Gute Idee, McGuire«, stimmte Amanda mir zu. »Auch wenn ich bezweifle, dass der Sinclair überhaupt weiß, was Beischlaf bedeutet. Wir sind immerhin eine jugendfreie Theatergruppe.«

»Du könntest es ihm ja beibringen«, grinste ich. »Weiterbildung und so.«

»Ich könnte dir ein paar Tricks beibringen«, meldete sich Dominik.

»Danke«, sagte Amanda mit einem süffisanten Lächeln. »Aber von Anfängern nehme ich keine Ratschläge an.«

 

* * *

 

Wir verbrachten den Rest der Mittagspause im Innenhof, bevor ich mich mit der Ausrede, ich müsse noch mit meinem Musiklabel telefonieren, schließlich davonstahl. Natürlich hatte mir mein Label schon vor Monaten gekündigt, aber das musste keiner wissen. Außerdem war es einfacher, als Dominik zu erklären, dass ich mich lieber einem Waterboarding unterziehen würde, als weiter seinem Gelaber zuzuhören.

Kaum hatte ich die anderen aus den Augen verloren, schlug ich den Weg zum Nordflügel der Bildungsfestung ein. Beim Trakt der Jungs angekommen, stieg ich über die Treppe zum Dachboden hoch. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Stapel von altem Papier, staubigen Requisiten und kaputten Möbeln bis zum Ende des Raumes. Dort öffnete ich das Dachfenster, schob einen kleinen Hocker darunter und kletterte schließlich nach draußen.

Das Dach war der einzige Ort, wo mich niemand mit Autogrammen, nervigen Fragen über mein Liebesleben oder dem Geheimnis meiner perfekten Haare (Aloe Vera und eine Haarmaske mit Hefe) belästigte. Selbst die nervigen Paparazzi schienen das Internat großflächig zu meiden. Hier oben musste ich nicht so tun, als würde mich irgendetwas interessieren, was in Amberwood vor sich ging. Ich war allein – und es war gut so.

Ich lehnte meinen Kopf gegen den Dachgiebel und winkelte meine Beine an, um Halt zu finden. Das war die beste Liegeposition, um dafür zu sorgen, dass die Haut in der Sonne gleichmäßig braun wurde. Ich zog eine Kippe aus der Tasche und zündete sie an, bevor ich die Augen schloss und mich leise seufzend zurücklehnte. Natürlich war Rauchen (ebenso wie die Benutzung von Smartphones, auch wenn sich niemand daran hielt) strengstens verboten, aber es war erstaunlich, was die Leute alles auftreiben konnten, wenn man berühmt war. Ich hatte viele Probleme, aber an Zigaretten zu kommen war keins davon.

Obwohl es längst nicht mehr Sommer war, waren die Dachziegel von der Sonne angenehm warm an meinem Rücken. Ich lag eine ganze Weile mit geschlossenen Augen da und ließ mich vom Geruch der Lucky Strike berieseln, als plötzlich mein Handy vibrierte. Rasch setzte ich mich auf und kontrollierte die neue WhatsApp-Nachricht, die ich soeben erhalten hatte.

Na, Junkie? Noch nicht an Langeweile gestorben?

Ein Grinsen breitete sich auf meinen Lippen aus. Allison wusste immer genau, wann ich ihre Nachrichten am meisten brauchte.

Noch nicht, antwortete ich. Aber lange wird es nicht mehr dauern.

Beeil dich mal. Wenn du weg bist, bin ich endlich die einzig Gutaussehende in unserer Familie. Darauf warte ich schon seit Jahren.

Mein Grinsen wurde breiter. Ich kann dir nichts versprechen, Schwesterlein. Sorry.

Ich habe Zeit, meinte sie. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie eine weitere Nachricht hinterherschickte. Mom und Dad machen sich Sorgen um dich.

Echt?

Nein. Aber sie reden ständig von dir. Sie schickte einen Smiley, der die Zunge herausstreckte, hinterher. Sie sind immer noch davon überzeugt, dass diese Schule das Beste für dich ist. Auch wenn sie diese ganze Geschichte mit den Vermissten ein wenig beunruhigt. Sie haben wohl Angst, dass du auch noch abhaust.

Ich sitze irgendwo in den schottischen Highlands am Arsch der Welt, schrieb ich zurück. Gibt nicht wirklich viele Möglichkeiten hier, um einfach so zu verschwinden.

Mom und Dad hätten dich kaum dort eingesperrt, wenn es anders wäre, schrieb Allison. Ich muss jetzt los. Jeff und ich gehen heute noch zusammen ins Kino.

Beim Gedanken an Allisons Freund verdrehte ich die Augen. Jeff war der typische 08/15-Macho, der Frauen die Tür aufhielt, nur ins Fitnessstudio ging, um Fotos davon auf Instagram posten zu können, und sich bei Masseurinnen in engen Kitteln seinen kleinen Jeff enthaaren ließ. Es wäre eine Untertreibung gewesen, wenn ich behauptet hätte, dass wir nicht auf derselben Wellenlänge waren. Aber Allison war schon längst volljährig und außerdem hatte ich als kleiner Bruder bei ihr sowieso noch nie viel zu melden gehabt. Also schickte ich bloß einen Daumen-hoch-Smiley und steckte das Handy weg, um mich wieder voll und ganz dem Sonnenbaden zu widmen. Im Gegensatz zu Jeff – der Gedanke an seinen Namen reichte, um Galle in mir hochkommen zu lassen – war ich nämlich nicht auf ein überteuertes Solarium für meinen perfekten Teint angewiesen.

Leider beschränkte sich meine Bräunungskur auf wenige Minuten, denn kaum hatte ich eine halbwegs bequeme Position zum Liegen gefunden, bemerkte ich das Schreien einer Polizeisirene, das langsam näher kam. Ich fuhr sofort hoch. Obwohl ich noch keinen Wagen sehen konnte, kannte ich jenes Geräusch gut genug, um zu wissen, dass es nichts als Ärger bedeutete. Instinktiv rollte ich mich zur Seite, um durch das offene Dachfenster wieder ins Innere zu klettern – Rektor Hector hätte mich umgebracht, wenn er erfuhr, dass ich hier oben rumhing und ein Handy mit mir trug –, bevor ich erstarrte. Es war nicht ein Wagen, der die Straße zur Bildungsfestung hochfuhr, sondern ein ganzes Dutzend, allesamt mit eingeschaltetem Blaulicht. Das Seltsamste war jedoch die Tatsache, dass sie am unteren Ende der Schotterpiste haltmachten und offensichtlich kein Interesse daran hatten, die Schule zu betreten. Dabei hätten sie allein in meinem Zimmer genug Mikroorganismen und unfreiwillig gezüchtete Schimmelpilzkulturen im Müll gefunden, um die ganze Bude dichtzumachen (von meinen Kippen mal ganz abgesehen).

Ich runzelte die Stirn und beugte mich nach vorne, um die Szene zu beobachten. Hinter den Wagen, die bereits neben der Straße geparkt hatten, tauchten weitere Polizeifahrzeuge sowie ein Krankenwagen auf. Ich konnte sehen, dass irgendwelche Leute mit Koffern und weißen Kitteln in den Wald rannten, während andere Fotos und irgendwelche Messungen von der Gegend machten. Die meisten waren jedoch damit beschäftigt, gelbes Polizeiband hervorzukramen und den Zugang zum Wald großflächig abzusperren. Ein mulmiges Gefühl befiel mich. Ich hatte dieses gelbe Band schon mal während meiner USA-Tour gesehen. Das war in Chicago gewesen, ganz in der Nähe meines Hotels. Eine Prostituierte war in dieser Nacht von einem durchgeknallten Irren niedergestochen und in einem der Müllcontainer am Straßenrand deponiert worden.

Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Und ich sollte recht behalten: Eine knappe Viertelstunde, nachdem die ersten Polizeiwagen aufgetaucht waren, sah ich vom Dach aus, dass zwei Weißkittel eine Bahre aus dem Wald trugen. Sie war mit einer dunklen Plane abgedeckt worden, aber selbst aus dieser Distanz konnte ich erkennen, dass sich darunter ein menschlicher Körper befinden musste. Ein toter menschlicher Körper.

Ich setzte mich auf. Eine Leiche. Die hatten gerade ernsthaft eine Leiche im Wald gefunden. Es war traurig, das sagen zu müssen, aber das war mit Abstand das Spannendste, was an dieser verdammten Schule in den letzten acht Wochen passiert war.