Leseprobe zu den Energiewandler-Chroniken

Kapitel 1

 

»Bist du noch da?«

Ich ließ das Licht meiner Taschenlampe durch die Dunkelheit schweifen. Schwarze Schatten huschten im Lichtkegel vorbei und griffen nach mir. Das Mondlicht, das durch die bodenlangen Fenster auf der linken Seite fiel, war selbst mithilfe der Taschenlampe nicht genug, um die Finsternis vollständig zu durchdringen. 

Die Nacht hatte diesen Ort kaum verändert. Wenn überhaupt, dann waren die Flure der Schule jetzt sogar noch deprimierender als tagsüber. Sie klafften wie gigantische Staubsaugerrohre vor mir auf und schienen mich mit jedem Schritt weiter in ihre Endlosigkeit hinein zu ziehen. Da waren keine Möbel. Keine Pflanzen. Keine Deko. Nur jene kahlen Wände und die Fensterfront, die in den überwachsenen Garten des Altbaus zeigte.

»Toby?«

Keine Antwort. Dabei musste er mich eigentlich hören. Immerhin war er erst vor wenigen Augenblicken um die Ecke verschwunden, um einer, wie er es nannte, verdächtigen Schwingung nachzugehen.

Das war seine Idee gewesen, nicht meine. Mir wäre niemals ein guter Grund eingefallen, weshalb ich das Schulgebäude in meiner Freizeit freiwillig betreten sollte. Ich vergeudete sowieso schon einen Großteil meiner Zeit dort und zählte seit Langem die Tage bis zu meinem Abschluss. Aber Toby wäre nicht Toby gewesen, wenn er nicht so lange auf mich eingeredet hätte, bis ich schließlich zu diesem irren Plan eingewilligt hatte. 

»Sei kein Arsch«, murmelte ich und ließ den Camcorder in meiner Hand sinken. Hätte ich ihm nachrennen sollen? Vermutlich. Aber aus Erfahrung wusste ich, dass diese verdächtigen Schwingungen meist bloß irgendeinem Wackelkontakt im EMF-Meter – oder den Neuronen in Tobys Hirn - zuzuschreiben waren. Und zum Rennen war ich um zwei Uhr morgens sowieso zu müde.

Frustriert blieb ich stehen. Wann waren wir so tief gesunken, dass wir nicht einmal mehr vor Einbruch zurückschreckten? Anfangs hatte es ja Spaß gemacht, sich in einsturzgefährdete Gebäude zu schleichen und nachts auf gruseligen Friedhöfen herumzulungern. Aber das? Das war definitiv ein neuer Tiefpunkt. Selbst für uns.

Aus dem Augenwinkel entdeckte ich die Umrisse einer Gestalt. Der Schrei hatte sich schon halb meine Luftröhre hochgekämpft, als ich realisierte, dass es bloß mein eigenes Spiegelbild war, das sich in der Fensterscheibe abzeichnete. Meine Güte. Hatte ich mich wirklich von Tobys Geschwafel so beeindrucken lassen, dass ich paranoid wurde? 

Ich verzog das Gesicht und die junge Frau im Fenster tat dasselbe. Ihre Haare waren so dunkel, dass sie mit dem Schwarz der Nacht verschwommen – zumindest bis auf die Spitzen, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Ich war blass genug, dass ich wohl selbst gut als Geist hätte durchgehen können, und das schwarze ACDC-Shirt widerlegte diesen Eindruck kaum. Ich streckte mir selbst die Zunge raus, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte.

Von Toby fehlte nach wie vor jede Spur. Mein bester Freund musste hier irgendwo sein, aber das Gymnasium war viel zu groß und zu verwinkelt, um jeden einzelnen Raum abzusuchen. Also trottete ich müde in die Richtung, in der er vor ein paar Minuten verschwunden war, und blieb erst wieder stehen, als ich um die nächste Ecke gebogen war. Auch hier empfing mich nichts als gähnende Leere.

Ich hielt vor der Fensterfront inne, die den Blick in den überdachten Innenhof freigab, und musterte die feinen Verzierungen, die von der Kunstklasse ins Glas eingelassen worden waren. Tiffany-Glas, nannten sie das. Es zog sich wie eine gläserne Mauer über das gesamte Stockwerk und hätte schön sein können, wenn die schrillen Farben und Muster die Scheibe nicht so überfüllt hätten, dass mir schwindlig davon wurde. An einer Stelle hatte jemand mit farbigen Filzstiften auf das Glas gezeichnet und einen unförmigen Fleck hinterlassen. Das war typisch. Die meisten Schüler am Gymnasium waren der Meinung, dass Sachbeschädigung ihren Coolness-Level steigerte. Aber vermutlich durfte sich das Mädchen, das soeben mit ihrem besten Freund ins Schulgebäude eingebrochen war, nicht über Sachbeschädigung aufregen.

Ich zog mein Smartphone aus der Jeanstasche und wollte gerade den Flugmodus rausnehmen – Toby behauptete, dass die Strahlen sonst die Schwingungen des EMF-Meters verzerren würden –, als ich die Schritte hörte. Leise, tapsende Schritte in einem unregelmäßigen Rhythmus. Sie kamen direkt aus dem Flur, der rechts von mir abzweigte.

Vorsichtig klappte ich den Bildschirm des Camcorders auf und hob die Kamera hoch. Die Schritte verstummten. Gelangweilt warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Aus dem Flur neben mir ertönten leise Atemzüge.

Ich zuckte nicht einmal zusammen, als Toby schreiend um die Ecke sprang. Das Licht seiner Taschenlampe traf meine Augen und ich kniff geblendet die Lider zusammen.

»Ha!« Mein bester Freund grinste von einem Ohr zum anderen. Nicht im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich. Ich kannte keinen Menschen mit einem breiteren Mund als Tobias Anderson. Seine lockigen Haare trotzten wie immer mutig der Schwerkraft und wippten auf und ab, während Toby aufgeregt von einem Bein aufs andere trat. »Du hast dich erschreckt«, stellte er, sichtlich zufrieden mit sich selbst, fest.

»Oh ja. Vermutlich hat man meine Schreie bis nach Amerika gehört«, antwortete ich.

»Komm schon. Mich kannst du nicht anlügen, Yu. Du wirst immer sarkastisch, wenn du nervös bist.«

Das stimmte allerdings. Sarkasmus war die Waffe der Unbewaffneten, sagte mein Vater immer.

»Natürlich bin ich nervös«, gab ich zu.

Tobys Augen begannen zu strahlen. »Wegen dem Geist?«

»Nein«, gab ich betont langsam zurück. »Weil wir gerade mitten in der Nacht in die Schule eingedrungen sind und uns wegen Einbruch strafbar machen.«

»Ach so.« Toby ließ seinen Blick durch den langen leeren Flur schweifen und zuckte anschließend mit den Schultern. »Ein Verbrechen ist nur eins, wenn es auch Zeugen dafür gibt, richtig?«

»Nein.«

»Na also«, ignorierte er meine Antwort, bevor er die Taschenlampe hob und damit von unten sein Gesicht erhellte. Er beugte sich etwas nach vorne. »Läuft die Kamera?«

Ich richtete den Camcorder, um das Gesicht meines besten Freundes aufs Bild zu kriegen, und nickte. »Kann losgehen.«

Toby räusperte sich, bevor er die Taschenlampe wie ein Mikrofon umklammerte und den Blick zur Kamera richtete. Seine blauen Augen verengten sich.

»Hallo Ghozties«, sagte er mit tiefer Stimme. Er bildete sich ein, das würde ihn seriöser erscheinen lassen. »Heute befinden wir uns an einem Ort, wo sich vor zweihundert Jahren Grausames ereignet hat.« Er räusperte sich erneut, um das stimmbruchbedingte Quietschen seiner Stimme zu überspielen, und schob sein Gesicht näher zur Kamera. »Hinter mir befinden sich die Flure des Altenstein Gymnasiums, dessen Fundament auf einem ehemaligen Hinrichtungsplatz errichtet wurde. Hier fand vor mehr als zweihundert Jahren eine der letzten Hexenverbrennungen Europas statt. Josephine Amstetter war eine jener unschuldigen Frauen, die hier einen qualvollen Tod fanden. Als die Flammen schon ihre Haare und ihre Kleider versengt hatten, verfluchte sie die Bevölkerung, sie nach ihrem Tod für alle Zeiten heimzusuchen. Ihr Blut klebt bis heute an den Wänden dieser Schule.«

Ich verdrehte die Augen. Jeder wusste, dass die Blutige Josephine nur ein blödes Märchen war, das sich die Schüler am Gymnasium erzählten, um sich gegenseitig Angst einzujagen. Nichts von dem, was Toby gerade gesagt hatte, war historisch korrekt – geschweige denn bewiesen. 

»Bis heute zieht Josephines ruheloser Geist durch das Gymnasium und treibt regelmäßig Schüler in den Wahnsinn«, fuhr mein bester Freund unbeirrt fort. »Es wird behauptet, dass jeder, der ihr begegnet, am Morgen danach mit schwarzem Blut an den Händen erwachen wird. Doch wir wären nicht der größte Geisterjäger-Kanal auf YouTube, wenn wir uns davon abschrecken lassen würden.«

Der größte Geisterjäger-Kanal auf YouTube. Das war etwas, worauf Toby besonders stolz war. Der einzige Geisterjäger-Kanal in den Weiten des Internets wäre wohl die passendere Bezeichnung. Von den drei Abonnenten, die wir hatten, war eine meine Schwester und die andere ich selbst. Was unser Glück war, denn in jedem anderen Fall hätten wir einen ziemlichen Gehirnaussetzer haben müssen, um in die Schule einzubrechen und das Ganze auch noch ins Internet zu stellen.

»Ich weiß nicht, wie viel von dieser Legende tatsächlich wahr ist. Aber ich weiß, dass wir heute Nacht die Wahrheit aufdecken werden.« Toby machte mit seiner freien Hand eine Bewegung, ihm zu folgen. »Begeben wir uns in den Raum, der direkt über dem Zentrum der alten Scheiterhaufen errichtet wurde: die Schulcafeteria.« Er trat ein paar Schritte zurück, bevor er seine Stimme entlastete und in seine gewohnte Tonlage zurückkehrte. »Und Cut.«

Ich klappte den Bildschirm des Camcorders zu und ließ die Kamera sinken. Erschöpft fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Augen. »Du willst das wirklich durchziehen, oder?«

»Der Preis des Erfolges ist Hingabe, harte Arbeit und unablässiger Einsatz für das, was man erreichen will«, antwortete Toby.

»Barack Obama?«, riet ich. 

»Frank Wright.«

Ich lächelte müde. Toby und ich machten gerne ein Spiel daraus, bekannte Zitate zu erraten und zuzuordnen. Oder eher: Er zitierte und ich ordnete sie dem erstbesten Promi zu, der mir einfiel. Während Tobys Gedächtnis nämlich wie ein Schwamm funktionierte, der jede noch so unnötige Information in sich aufsog, war mein Kopf eher so was wie ein Nudelsieb.

»Weißt du«, sagte er, während wir gemeinsam den Flur entlang gingen, »ich glaube, mit diesem Video wird unser Kanal so richtig durchstarten.«

»Klar«, antwortete ich. »Vermutlich werden wir sogar zu einer Privataudienz bei der Queen eingeladen.«

»Ich meine es ernst, Yu. Ich habe das Gefühl, dass heute Abend etwas Großes passieren wird«, redete Toby unbeirrt weiter. Der Kegel seiner Taschenlampe tanzte beim Gehen an den Wänden auf und ab. »Unsere Leben werden sich für immer verändern. Wir werden endlich cool werden.«

Ich seufzte leise. Man hätte glauben können, dass ein Einbruch ins Schulgebäude genug war, um sogar Tobias Anderson verstummen zu lassen. Aber Fehlanzeige. 

Obwohl ich überzeugt war, dass uns niemand folgte, warf ich sicherheitshalber einen Blick über die Schulter zurück. Ich wollte nicht zwei Jahre vor meinem Abschluss aus der Schule geworfen werden, weil ich mich von Tobys bescheuerter Idee hatte mitziehen lassen. Natürlich war da keiner. Nur die verzierten Fenster zum Innenhof mit dem seltsamen Fleck auf der rechten Seite.

Seltsam. Ich hätte schwören können, dass er zuvor noch auf der linken Seite gewesen war.

»Yu? Kommst du?«

Als ich bemerkte, dass ich stehengeblieben war, machte ich mich rasch daran, wieder zu meinem besten Freund aufzuschließen. 

Helles Mondlicht flutete durch die großen Fenster am Ende des Flurs und tauchte ihn in weißes Licht. Wir befanden uns im Erdgeschoss. Die Stadt lag still und regungslos vor uns. Ich erkannte die Umrisse der Häuserreihen, die fast alle im Dunkeln versunken waren, die Zinnen der Museggtürme und irgendwo in der Ferne das glatte Schwarz des Sees. Es war ein schöner Anblick. Keine Menschen. Kein Lärm. Nur Finsternis und Stille.

Selbst Toby schien es ausnahmsweise mal die Sprache verschlagen zu haben, denn auf dem Weg in Richtung der Cafeteria sagte er kein einziges Wort. Wir hatten den Eingang schon fast erreicht, als ich innehielt.

»Warte«, flüsterte ich und hielt Toby mit einer Hand an der Jacke fest. Er drehte sich stirnrunzelnd zu mir um.

»Was?«

»Psst. Da kommt jemand.«

Er sah mich an. Es war einer dieser Blicke, der in wenigen Sekunden genau das ausdrückte, was mit Worten Minuten gedauert hätte. Nach fast sechzehn Jahren kannte ich Toby gut genug, um zu wissen, was in diesem Moment in ihm vorging.

Wir müssen uns verstecken, sagte er mit den Augen.

Ich schüttelte den Kopf. Zu laut, formte ich die Worte mit meinen Lippen.

Toby schürzte die Lippen und begann, mit den Armen zu wedeln. Ich schüttelte weiter beharrlich den Kopf. Wenn wir uns jetzt bewegten, würden wir nur auf uns aufmerksam machen.

Ich schaltete die Taschenlampe aus, die ich in der ganzen Hektik völlig vergessen hatte. Die Schritte kamen näher. Dem Geräusch nach zu urteilen mussten sie sich irgendwo im Flur befinden, der direkt in unseren abzweigte.

Ich umklammerte Tobys Handgelenk und zog ihn ein Stück in die Schatten. Er stieß einen leisen Fluch aus und ließ die Taschenlampe fallen. Das laute Klirren von Glas hallte durch den Gang.

Dieses Mal brauchte ich keine Worte, um Toby wissen zu lassen, was in mir vorging. Er hob abwehrend die Arme.

»Du hast mich erschreckt«, raunte er. »Deine Hände waren so kalt.«

»Meine Hände sind immer kalt.«

»Ich wusste ja nicht, dass es deine Hände sind. Es hätte genauso gut die Blutige Josephine sein können.«

Ich kam nicht dazu, ihm zu erklären, wie bescheuert das war, als ich realisierte, wie still es auf einmal geworden war. Die Schritte waren verstummt.

Toby wies mit dem Kinn in Richtung des Treppenhauses und gestikulierte mit seinen Armen, bevor er mich auffordernd ansah. Ich nickte und mein bester Freund tat es mir gleich. Er zählte stumm bis drei, dann rannten wir.

Unsere Schritte hallten an den leeren Wänden des Gymnasiums wider. Mein bester Freund fiel bereits nach wenigen Metern zurück. Sein Keuchen hörte sich an wie der alte Teekocher, den Papa immer benutzte. Er hatte keine Atemprobleme oder irgendetwas in der Art. Er hatte lediglich das Pech, dass er nicht nur die unsportlichen Gene seiner Mutter geerbt hatte, sondern auch noch den Bewegungsdrang eines Zweifingerfaultiers besaß. 

Wir bogen in den Flur ein, der zurück zum Innenhof führte. Das Licht auf der anderen Seite der Glasscheibe erhellte die verzierte Fensterfront und dort, wo sich die Strahlen brachen, warf es farbige Streifen auf den Boden. Ich hielt in meiner Bewegung inne und drehte mich zu Toby um, der sich an einer der Säulen, die in die Wand des Ganges eingelassen war, abstützte und laut nach Luft rang.

»Komm schon«, drängte ich. »Wir müssen hier weg.«

Er hob den Kopf. Sein Gesicht war hochrot angelaufen. Tobys Augen weiteten sich, als er etwas hinter mir fixierte. Ich drehte mich um, nur um einen breiten Schatten über mir thronen zu sehen.

Hausmeister Meister – ja, das war tatsächlich sein Name – hatte die Arme vor seiner beeindruckend muskulösen Brust verschränkt und funkelte uns mit den Augen eines wahnsinnig gewordenen Disney-Bösewichts an.

»Yukiko«, quittierte er meine Anwesenheit, bevor er sich meinem besten Freund zuwandte. »Tobias.«

»Guten Abend Herr Meister«, brachte dieser zwischen zwei Atemzügen hervor.

»Darf ich fragen, was ihr beide hier zu suchen habt?«

»Wir, ähm … nun, wir lernen«, antwortete Toby. Ich presste die Lippen aufeinander. Wenn er nur halb so gut im Lügen gewesen wäre wie im Zitieren, hätten wir uns in den letzten Monaten viele Stunden Nachsitzen sparen können.

»Lernen«, wiederholte Hausmeister Meister.

»Wir lernen gerade, uns, äh … besser zu organisieren«, versuchte mein bester Freund, sich irgendwie aus der Situation zu winden.

»Toby hat seine Mathe-Aufgaben im Klassenzimmer vergessen und da wir morgen einen wichtigen Test schreiben, wollten wir sie rasch holen gehen«, übernahm ich das Wort. Toby warf mir einen vielsagenden Blick zu, hielt jedoch die Klappe.

»Natürlich«, erwiderte der Hausmeister. Der Sarkasmus tropfte regelrecht von seiner Zunge. »Was man um zwei Uhr morgens als verantwortungsvolle und pflichtbewusste Musterschüler eben so tut.«

Toby nickte überzeugt. »Ganz genau.«

Der Hausmeister brummelte etwas Unverständliches unter seinem Bart hervor. »Die Sicherheitsfirma hat mir vor einer Stunde wegen eines Alarms an der Schule Bescheid gegeben«, erklärte er. »Ich nehme an, ihr wisst nichts davon?«

»Nada«, meinte mein bester Freund achselzuckend. »Absolut nichts.«

»Und dass ihr in den letzten Tagen verdächtig vor meinem Büro herumgeschlichen seid, das hat wohl auch nichts damit zu tun, oder?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Meister kratzte sich seufzend am Kopf. »Hört zu: Ich kann euch beide gut leiden. Das ist auch der Grund, weshalb ich euch nicht schon längst die Polizei auf den Hals gehetzt habe. Ihr seid jung. Ihr wollt ein wenig rebellieren, euch nicht alles einfach gefallen lassen, euren Lehrern auch mal widersprechen.« Aus dem Augenwinkel sah er zu mir hinüber. Es war offensichtlich, dass dieser letzte Satz an mich gerichtet war. »Das verstehe ich. Das ist auch in Ordnung. Aber Einbruch? Das geht definitiv zu weit. Es gibt Regeln – und es gibt Gesetze. Die Regeln dieser Schule sind von unserer Direktorin und den Lehrern zusammengestellt worden. Unser Strafgesetzbuch hingegen …«

Er redete noch weiter, aber seine Worte verhallten in meinem Kopf wie ein leiser werdendes Echo. Stille nahm mich ein und ein dumpfes Vibrieren füllte meinen Gehörgang aus. Ich ließ meinen Blick zur Quelle des Geräusches schweifen. Hinter der bunten Glasfront beim Innenhof bewegte sich etwas. Ein dunkler Fleck, ähnlich wie derjenige, den ich bereits von oben gesehen hatte. Nur dass dieser hier kein Fleck war, sondern ein Schatten.

Wir waren nicht allein.

Mein Herz sank in meinen Magen. Durch die gemusterten Scheiben konnte ich die Gestalt nicht genau ausmachen, aber die Art, wie sie sich bewegte, war elegant und raubtierhaft zugleich. Es war nicht natürlich. Vielmehr sah es aus wie die perfekte 3D-Animation einer Gehbewegung, wo jeder Schritt fließend in den nächsten überging. Zu perfekt. Zu makellos. Der Schatten hatte keine wirklichen Konturen, sondern lediglich Ränder, die außen verblassten, und er war von einem hellen Schimmer umgeben. 

Ich konnte nicht anders, als die Gestalt anzustarren. Fast gleichzeitig, als spürte sie meinen Blick auf ihrem Körper, hielt sie in ihrer Bewegung inne. Sie schien mich durch die Scheibe anzustarren, obwohl ich ihre Augen nicht ausmachen konnte. 

Noch bevor ich überhaupt Zeit hatte zu realisieren, was gerade geschah, ging ein brennender Schmerz durch meine rechte Handinnenfläche. Das Vibrieren verstummte und die Geräusche von eben prasselten mit unerwarteter Lautstärke auf mich ein. Ich machte einen Schritt zurück und presste mit dem Daumen der anderen Hand auf die Narbe, die sich in Form von zwei gekreuzten Linien über meine Handfläche erstreckte. Zwei dünne, weiße Striche auf meiner Haut, die mich jeden Tag daran erinnerten, dass ich niemals normal sein würde.

»Yu? Bist du okay?«

Toby zog besorgt die Stirn zusammen. Der Hausmeister hatte aufgehört zu reden.

»Sorry«, murmelte ich. »Ich bin nur etwas müde.«

Das Brennen auf meiner Handfläche verwandelte sich in ein sanftes Kribbeln. Ich ballte die Hand zur Faust und atmete durch.

»Gutes Stichwort«, meinte Meister. »Dann fahre ich euch jetzt mal nach Hause und anschließend können wir diese Sache direkt mit euren Eltern besprechen.«

»Was?« Tobys Gesichtszüge entglitten. »Bitte zwingen Sie mich nicht dazu, nach Hause zu gehen. Meine Mutter wird mich umbringen, wenn sie das erfährt.«

Während die beiden in eine Diskussion verfielen, drehte ich den Kopf erneut in Richtung der Glasscheiben. Doch der Schatten war verschwunden.